Das Problem der Textzusammenstellung ist zum Gegenstand einer ausgedehnten Forschungskontroverse geworden. Mit wenigen Ausnahmen akzeptieren die meisten nichtmuslimischen Gelehrten, dass das geschriebene Buch Aufzeichnungen göttlicher Äußerungen enthält, die Muhammad im Laufe seines Dienstes im Amt des Propheten gemacht hat (Beginn um 610, Ende mit seinem Tod im Jahre 632). Verschiedenen Überlieferungen zufolge fiel Muhammad in einen tranceähnlichen Zustand, wenn ihn die Offenbarungen erreichten. Diese Überlieferung stimmt mit Berichten überein, die den Empfang von Offenbarungen bei Propheten in jüngerer Zeit schildern, so zum Beispiel bei Joseph Smith Jr., dem Begründer des Mormonentums, dessen Äußerungen in der als Lehre und Bündnisse bekannt gewordenen Schrift enthalten sind. Muslimische Geschichtsschreiber stimmen generell darin überein, dass manche oder auch alle dieser Äußerungen, die sorgsam von Muhammads »normaler« Rede, wie sie im hadith -Schrifttum festgehalten ist, unterschieden werden, zu seinen Lebzeiten niedergeschrieben worden sind. Jedem der vier »Rechtgeleiteten« Kalifen ist das Verdienst zuerkannt worden, die Zusammenstellung des Textes entweder initiiert oder befördert zu haben. Allerdings ist zwischen Historikern und Traditionalisten unumstritten, dass der offizielle Kodex unter dem dritten Kalifen ‘Othman [49](Regierungszeit 644–656) festgelegt wurde. Abweichende Lesarten wurden schließlich vernichtet, konnten aber nicht vollständig beseitigt werden: Die Aufgabe wurde durch die Beschaffenheit der frühesten arabischen Schrift erschwert, die keine diakritischen Punkte kannte, mit denen Konsonanten voneinander unterschieden werden konnten. In dem Maße, wie sich die Schrift weiterentwickelte, entstand mehr und mehr ein Standardtext, bei dem die variierenden Lesarten auf sieben reduziert worden sind, von denen jede als gleichermaßen gültig angesehen wird.
Die Öffnende
»Im Namen Allahs, des Erbarmers, des Barmherzigen!
Lob sei Allah, dem Weltenherrn,
Dem Erbarmer, dem Barmherzigen,
Dem König am Tag des Gerichts!
Dir dienen wir und zu Dir rufen um Hilfe wir;
Leite uns den rechten Pfad,
Den Pfad derer, denen Du gnädig bist,
Nicht derer, denen Du zürnst, und nicht der Irrenden.«
Sure 1,1–7
Zusammenfassung des Koran
»[Die Fatiha] enthält in kondensierter Form alle grundlegenden Prinzipien, wie sie im Koran niedergelegt worden sind: Das Prinzip von der Einheit und Einzigartigkeit Gottes; das Prinzip, dass er der Schöpfer und Erhalter des Universums ist, der Quell aller lebensspendenden Gnade, der Eine, demgegenüber der Mensch zuletzt verantwortlich ist, die einzige Macht, die wahrhaft führen und helfen kann, die Aufforderung zum rechtschaffenen Handeln im Leben dieser Welt; […] das Prinzip des Lebens nach dem Tode und der organischen Folgen aus dem Handeln und Verhalten des Menschen; […] das Prinzip der Anleitung durch die Gesandten Gottes […] sowie, daraus folgend, die Notwendigkeit, sein Selbst freiwillig dem Willen des Obersten Wesens hinzugeben und auf diese Weise nur Ihn allein anzubeten.«
Muhammad Asad: The Message of the Quran. Gibraltar 1980. S. 1.
Eine Seite aus dem Koran: ein Beispiel für die Naskhi-Schrift.
Zu lesen ist die letzte, die 114. Sure ( Surat al-Nas – Die Menschen): »Sprich: Ich nehme meine Zuflucht zum Herrn der Menschen, Dem König der Menschen, Dem Gott der Menschen, Vor dem Übel des Einflüsterers, des Entweichers, Der da einflüstert in die Brüste der Menschen – Vor den Dschinn und den Menschen.«
(© World of Islam Festival Trust)
Das Buch ist in 114 Suren (wörtl. ›Reihen‹) oder Kapitel unterteilt, die mehr oder weniger ihrer Länge nach angeordnet sind, so dass die kürzeste Sure am Ende und die längste kurz hinter dem Anfang steht. Die wichtigste Ausnahme von diesem Schema bildet die Fatiha oder »Eröffnende«, eine Anrufung Gottes in sieben Versen, die von Muslimen bei jedem der fünf Gebete, zu denen sie alle vierundzwanzig Stunden verpflichtet sind, wiederholt werden. Die Fatiha wird gelegentlich als die »Mutter des Buches« bezeichnet und ist nach allgemeiner Auffassung die Quintessenz des Islam. Oft wird sie als Gebet verwendet.
[50]In den auf sie folgenden Suren wird dieselbe grundlegende Botschaft wiederholt, genauer herausgearbeitet, erweitert und mit Geschichten illustriert, wobei auf den jüdisch-christlichen Überlieferungsschatz, vermehrt um einige deutlich arabische Elemente, zurückgegriffen wird. Es begegnen also Adam und Noah, Abraham und Joseph, Moses und Jesus neben den der Bibel unbekannten arabischen Propheten und Weisen Hud, Salih und Luqman. Die Theologie des Textes vertritt einen absoluten und kompromisslosen Monotheismus. Wie im Alten Testament sind die Propheten gesandt, die Menschen vor dem Abweichen vom rechten Pfade und der Anbetung falscher Götter zu warnen. Als besonders abscheulich wird dabei die Sünde des shirk , die »Beigesellungssünde«, angesehen, bei der die Erhabenheit Gottes dadurch kompromittiert ist, dass er durch die Verbindung mit geringeren Göttern sozusagen kontaminiert wird. [52]Unaufhörlich wird in den Suren der Wille, die Majestät und schöpferische Macht Gottes betont und gepriesen. Allah – das arabische Wort für Gott – enthält bereits den bestimmten Artikel und bedeutet wörtlich »der Gott«. Anstatt sich in fruchtlosen Spekulationen über seine Eigenschaften zu ergehen, werden die Menschen angehalten, seine Gegenwart anzuerkennen und den Moralgesetzen sowie den Ge- und Verboten zu gehorchen, die ihnen, wie sie glauben, durch eine Folge von Gesandten und Propheten geoffenbart worden sind. Der Letzte in dieser Reihe ist Muhammad. Gott ist sowohl transzendent wie immanent, der Herr der Schöpfung und gleichzeitig Einer, der dem Einzelnen näher ist als seine »Drosselvene«.
Gottes Sprachrohr
»Muhammad ist das Sprachrohr des göttlichen Willens, der ihm von Gabriel mitgeteilt wird, und so steht er wie ein Beamter, der das Vertrauen des Königs genießt, auf der Grenzlinie zwischen dem königlichen Hof und den Untertanen. Untertan bleibt er immer. Manchmal empfängt er Botschaften, um sie an das Volk weiterzuleiten; manchmal wird er direkt als der Vertreter des Volkes angesprochen oder empfängt für das Volk bestimmte Gebote oder Ermahnungen; dann wieder werden besondere Ermahnungen und Anweisungen für sein eigenes Verhalten an ihn gerichtet; und zuweilen überschreitet er sozusagen die Grenze und überbringt dem Volk, indem er sich zu ihm umdreht, direkt die göttlichen Gebote und Ermahnungen.«
W. M. Watt: Bell’s Introduction to the Quran. Edinburgh 1970. S. 67
Dass im Koran Gott und nicht Muhammad spricht, wird schon durch das imperative »Sprich!« deutlich, das vielen Äußerungen vorangestellt und an Muhammad gerichtet ist. Gott spricht von [53]sich in der ersten Person Singular oder Plural, doch kommt es auch vor, dass der Prophet anscheinend vom Buch selbst angeredet wird und ihm als einer dritten Person von Gott berichtet wird. Neal Robinson, ein britischer Wissenschaftler, der den Stil des Koran detailliert untersucht hat, weist darauf hin, dass es sich bei dem plötzlichen Wechsel zwischen verschiedenen Pronomina um ein Wesensmerkmal der arabischen Rhetorik handelt und dass trotz der Verwendung verschiedener Pronomina »Gott der implizite Sprecher«14 des gesamten Koran-Textes sei:
Mit der ersten Person Plural drückt Er seine Macht, Erhabenheit und seinen Großmut aus. Mit der Verwendung der ersten Person Singular wahrt Er seine Einheit, schlägt einen vertraulicheren Ton an oder gibt seinem Zorn Ausdruck. In der dritten Person Singular richtet Er eine universale Botschaft an die Menschheit, und zwar in einer Sprache, die die Menschen weiterverwenden können.
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