„Dadurch hat Elsbeth aber eine sehr glückliche Kindheit gehabt“, warf Margot ein. „Und das hat ihr gewiß viel gegeben, auch für ihre Erinnerung!“
„Mag sein! Aber es hat sie für das Leben untüchtig gemacht! Wir hätten nicht alles von ihr nehmen dürfen. Würde sie gezwungen gewesen sein, von frühester Jugend an selbst mit den Dingen fertig zu werden, stünde sie heute dem Leben als fertiger und selbstsicherer Mensch gegenüber. Heute weiß ich, daß man seine Kinder nicht vor allem bewahren darf, um sie nicht lebensuntüchtig zu machen. Aber was nutzt mir diese Weisheit jetzt? Heute ist es für meine Einsicht zu spät!“
„Aber nein, Frau Jakobsen!“ widersprach Margot. „Solange wir einen Menschen, der uns lieb und teuer ist, richtig einzuschätzen vermögen, solange können wir ihm auch helfen.“
„Das mag stimmen, Margot!“ sagte die alte Dame, die sich den Einwand der jungen Ärztin einen Augenblick lang hatte durch den Kopf gehen lassen. „Aber leider hat das nur begrenzte Bedeutung, ich lebe ja schließlich nicht ewig.“
„Ich bin ja auch noch da, Frau Jakobsen!“ sagte Margot mit einem kleinen Lächeln. „Ich werde Elsbeth schon nicht im Stich lassen!“
„Daß weiß ich, Margot! Aber ob das genug sein wird? Bitte, verstehe mich recht! Als Freundin kann man sehr viel helfen, aber solche Hilfe darf auf die Dauer keine einseitige Angelegenheit bleiben! Glaube einer alten Frau, die das Leben kennengelernt hat, es ist nicht gut, wenn in einer Freundschaft der eine Teil immer nur der Nehmende und der andere stets der Gebende ist!“
„Gelben ist seliger denn Nehmen, heißt es schon in der Bibel, Frau Jakobsen. Und ich finde, daß diesem Wort eine Bedeutung zukommt, die manches Sittengesetz ersetzen könnte!“
„Du bist Idealistin“, lächelte die alte Dame. „Das habe ich schon gewußt, als du damals Medizin studiertest! Aber ich möchte noch etwas erwähnen: einmal hatte ich nämlich allen Grund, sorgenlos in die Zukunft zu schauen, das war an jenem Tage, als Elsbeth ihren Walter heiratete. An ihn konnte sie sich anlehnen, er war ihr Stütze und Halt im Leben, er nahm ihr alle Entscheidungen ab und teilte ihr Tagewerk ein, wie er es für gut und richtig hielt. Er war eben der Mann!“
„Sie wollen also sagen, daß Elsbeth eine männliche Stütze nötig hätte?“
„Ja, das ist es, Margot! Und ich halbe es bei Gesprächen mit Elsbeth wiederholt durchblicken lassen. Doch damit stieß ich auf Granit! Und weil ich nicht locker ließ, hat sie mich schließlich gemieden. Das ist es, was mich so schmerzt.“
„Sie glaubt, ihrem Walter über das Grab hinaus die Treue halten zu müssen“, erwiderte die Ärztin. „Das ist ein sehr schöner und edler Beweggrund. Nur hat Elsbeth dabei vergessen, daß das Leben weitergeht. Es gibt Gefühle und sogar Verstandesgründe, über die man sich hinwegsetzen muß!“
„Ich freue mich, Margot, daß du mich verstehst! Ja, so ist es! Sie glaubt – und darin wird sie von ihrem Verstande bestärkt – daß sie dem Toten die Treue halten müsse. Aber wenn sie auf ihr Gefühl hören, wenn sie ihrem Instinkt folgen würde, dann müßte sie erkennen, daß sie nicht der Mensch ist, der auf die Dauer allein bleiben kann!“
„So sehe auch ich den Fall!“ sagte Margot überzeugt. „Aber wie sollen wir Elsbeth das beibringen?“
„Ja, das ist die große Frage! Ich selbst darf ihr das unter keinen Umständen beizubringen versuchen. Sie würde sofort mißtrauisch werden und sich gegen jeden meiner Vorschläge sperren!“
„Richtig, das würde sie tun! Aber wenn ich es ihr sagen würde?“
„Auf dich wird sie hören, Margot!“ sagte die alte Dame überzeugt. „Es kommt aber darauf an, in welcher Weise du sie mit diesem Gedanken vertraut machen willst. Auf keinen Fall darfst du mit der Tür ins Haus fallen!“
„Das wäre das verkehrteste, was ich tun könnte“, pflichtete ihr Margot sofort bei. „Wenn wir Elsbeth wirksam helfen wollen, müssen wir sehr behutsam und äußerst diplomatisch Vorgehen!“
„Ja, wenn man nur wüßte, wie!“
„Vielleicht schützen wir Karin vor! Wir müssen Elsbeth begreiflich zu machen versuchen, daß es unverantwortlich von ihr wäre, das Kind ohne Vater aufwachsen zu lassen!“
„Das wäre ein Weg!“ sagte die alte Dame freudig bewegt. „Ja, auf diese Weise müßte es gehen!“
„Gut, dann will ich den Versuch wagen!“
„Ich danke dir von ganzem Herzen, Margot! Du weißt ja nicht, welche Sorge du von mir nimmst!“
„Es geht ja um Elsbeth“, sagte die Ärztin schlicht, „und wir haben sie ja beide lieb!“
Die alte Dame griff nach Margots Hand und streichelte sie mit ihren Greisenfingern. Dann hob sie den Blick zu ihr empor und fragte:
„Wirst du es Elsbeth sagen, daß Karin ein paar Wochen Erholung braucht?“
„Ich werde Elsbeth veranlassen, bei Ihnen anzurufen! Es dürfte zweckmäßig sein, sie im Glauben zu lassen, daß die Initiative von ihr selber ausginge. Wir müssen alles tun, um ihr Selbstbewußtsein und ihre Sicherheit zu stärken!“
Nachdem sie dies verabredet hatten, erhob sich die Ärztin, um sich zu verabschieden. Die alte Dame brachte sie an die Tür. Als sie der Jüngeren die Hand reichte, standen Tränen in ihren Augen.
„Ich danke dir, Margot, daß du gekommen bist! Und ich danke dir für alles, was du an Elsbeth und an meiner kleinen Enkeltochter tust!“ sagte sie mit brüchiger, vor Rührung zitternder Stimme.
„Danken Sie mir nicht, Frau Jakobsen!“ wehrte Margot bescheiden ab. „Was ich tue, ist eine Selbstverständlichkeit! Und denken Sie daran, daß Elsbeth meine Freundin ist! Würde der Fall umgekehrt liegen, würde Elsbeth genau so handeln wie ich jetzt!“
Wenn sie es könnte! dachte die alte Dame resigniert. Aber dazu ist Elsbeth kein Mensch. Ihr würde es nie gegeben sein, das Leben so zu meistern, wie Margot Fuhrmann es zu meistern verstand.
Es war schon später Nachmittag, als Margot nach Rissen zurückkehrte und ihren Wagen in die Garage fuhr. Sie stieg aus und ging ins Haus, um Elsbeth aufzusuchen. Aber das Mädchen sagte ihr, die gnädige Frau sei noch im Garten. Mit leisem Erstaunen vernahm Margot diese Tatsache, dann ging sie hinaus und dorthin, wo sie die Freundin vor Stunden verlassen hatte. Elsbeth lag in ihrem Faulenzer und war eingeschlafen.
Eine ganze Weile blieb Margot vor ihr stehen und schaute auf die friedlich Schlummernde hinab. Eine warme Welle schwesterlichen Mitempfindens hüllte ihr Herz ein und ließ ihren Atem schneller gehen. Schon wollte sie sich abwenden, um die Schlafende nicht zu stören, da mahnte sie ihr ärztliches Gewissen, daß es nun genug der Ruhe sei. Also rührte sie die Freundin an der Schulter und weckte sie.
Erschrocken fuhr Elsbeth aus dem Schlafe hoch.
„Ach, du bist es!“ sagte sie, und ihre Worte klangen beinahe ein wenig enttäuscht. „Wie spät ist es denn?“
„Gleich sechs! Ich glaube, du hast jetzt genug geschlafen, Elsbeth! Wovon hast du geträumt? Mir scheint, du hast jemand anderen erwartet?“
„Aber was denkst du denn?“ spielte Elsbeth die Entrüstete. „Ich habe doch nur geträumt!“
„Sicher von einem Märchenprinzen!“ lachte Margot. „Und da mußt du ja enttäuscht sein, daß du statt des Prinzen nur mich vorfindest!“
„Ich bitte dich, Elsbeth!“ sagte die junge Frau flehend und errötete vor Verlegenheit.
„Schon gut, mein Kind!“ beruhigte sie die Freundin. „Wir wollen jetzt ins Haus gehen und uns ein wenig um Karin bekümmern!“
„Wie du über mich verfügst!“ sagte Elsbeth ohne den geringsten Vorwurf. „Es ist alles so selbstverständlich, was du sagst und anordnest. Und ich muß sagen, ich füge mich gern! Fast hätte ich Lust, dich zu meinem Vormund zu machen!“
„Dann müßte ich ein Mann sein, Elsbeth!“ sagte Margot lachend. „Denn nur einem Manne würdest du auf die Dauer deinen Respekt bewahren! Du müßtest eben wieder heiraten!“
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