Ihr Lächeln bat um Nachsicht, und Elsbeth merkte nicht, daß die Freundin diesen Grund nur vorgeschoben hatte. In Wirklichkeit wollte sie Elsbeth mit ihrer Erinnerung allein lassen. Vielleicht wollte diese am Grabe stumme Zwiesprache halten mit dem Toten. Und da mußte jeder andere störend wirken, selbst wenn es die beste Freundin war.
Elsbeth nahm die Rosen aus der Vase und wikkelte den Strauß ein. Dann gingen sie nach draußen, wo Margots Wagen parkte.
„Wie sollen wir fahren, Elsbeth?“ fragte die Ärztin. „Oben herum über Alsterdorf und Ohlsdorf oder über die Alsterbrücke nach Barmbeck?“
„Das ist mir gleich, Margot! Es kommt ja nicht darauf an, wann ich eintreffe.“
„Dann fahren wir erst einmal die Rothenbaum-Chaussee hinunter zum Dammtor-Bahnhof!“ entschied die Ärztin und setzte den Wagen in Gang.
Ihre Aufmerksamkeit wurde vom Verkehr in Anspruch genommen, so daß sie keine Zeit fand, die Unterhaltung mit Elsbeth fortzusetzen. Diese aber saß zurückgelehnt in den Polstersitz und hing ihren Gedanken nach.
Das Verteilerkreuz vor der Lombardsbrücke zeigte rotes Licht, Margot ließ den Wagen auslaufen und hielt an. Plötzlich sagte die Freundin an ihrer Seite:
„Meinst du wirklich Margot, man müsse seinem Gefühl mehr gehorchen als dem Verstand?“
Elsbeth hatte offenbar das in der Wohnung geführte Gespräch noch nicht vergessen. In Gedanken beschäftigte sie sich noch mit dem, was Margot darüber gesagt hatte.
„Darauf könnte ich dir jetzt mit einem Gemeinplatz antworten“, sagte die Ärztin, „aber das wäre keine erschöpfende Antwort. Viele halten es für den Gipfel der Lebensweisheit, wenn man zwischen Verstand und Gefühl genau die Mitte hält und weder dem einen noch dem anderen den dominierenden Einfluß überläßt.“
„Und wie denkst du selbst darüber, Margot?“
Die Ärztin wurde einer Antwort enthoben, denn das grüne Licht gab die Straße frei, sie mußte wieder auf den Verkehr achten. Erst als sie an der Außenalster entlangfuhren und auf die Hamburger Straße zusteuerten, fand sie Muße, das Gespräch wieder aufzugreifen.
„Du möchtest wissen, wie ich selbst darüber denke? Nun, Elsbeth, das kommt immer auf den einzelnen Fall an! Es gibt keine Universalmethode, die überall anzuwenden wäre. Wenn ich dir eine klare Antwort geben soll, mußt du mir schon sagen, worum es sich handelt!“
„Um meine Mutter und mich!“
„Und worin seid ihr verschiedener Meinung?“
„Sie will, daß ich wieder heirate!“
Der Wagen machte plötzlich einen Sprung vorwärts. Das Fräulein Doktor war so überrascht von dieser Antwort, daß sie ein wenig zu heftig auf den Gashebel getreten hatte.
Und weil sie so überrascht war, wußte sie auch nicht sofort eine Antwort zu geben. Daß sich Elisabeth gegen eine Wiederverheiratung sträubte, war für die junge Ärztin eine solche Selbstverständlichkeit, daß sie es einfach unglaublich fand, wie jemand hier anderer Meinung sein konnte. Und noch dazu Elsbeths eigene Mutter. Jetzt glaubte sie die Freundin plötzlich zu verstehen. Wenn solche Meinungsverschiedenheiten Vorlagen, mußte ja das gute Einvernehmen zwischen Mutter und Tochter getrübt sein. Aber dürfte sie Elsbeth jetzt darin bestärken?
Nein, das ging wohl nicht an, wenn sie eine wahre und aufrichtige Freundin war. Sie mußte sich erst ganz allmählich vortasten und dann versuchen, die aufgerissene Kluft zwischen den beiden Menschen, die sich nahestanden, wieder zuzuschütten.
„Deine Mutter wünscht, daß du dich wieder verheiratest?“ setzte Margot nach einer Pause das Gespräch fort. „Ich weiß natürlich nicht, welche Gründe sie dazu bewogen haben, einen solchen Wunsch auszusprechen, aber ich bin gewiß, deine Mutter will nur dein Bestes, Elsbeth!“
„Jetzt stellst du dich auf ihren Standpunkt!“ antwortete die Freundin bitter, und es zuckte bedrohlieh um ihre Mundwinkel.
„Aber nein, Elsbeth, das tue ich keineswegs!“ widersprach Margot lebhaft. „Ich bilde mir nur ein, daß eine Mutter immer nur das Beste für ihre Tochter im Auge haben kann. Ob das in diesem Falle aber auch das Richtige ist, sei dahingestellt! Ich möchte nur deiner Mutter nicht unrecht tun, weil sie sicher nur edle Bewegtgründe hat.“
„Ich will aber nicht bevormundet werden!“ sagte Elsbeth heftig. „Und darin schon gar nicht! Aber Mama versteht mich nicht! Sie will nicht einseben, daß ich das ganz allein entscheiden muß!“
„Und wie hast du dich entschieden, Elsbeth?“ fragte Margot leise, obwohl sie die Antwort doch schon wußte. Für Elsbeth Haurand kam kein anderer Mann mehr in Frage, denn sie war mit Walter sehr glücklich gewesen. Und wenn sie auch noch jung war, so würde sie doch nie wieder für einen Mann das empfinden können, was man Liebe nannte. So etwas gab es für Elsbeth nur einmal im Leben.
Die Antwort, die der Fragenden aber jetzt zuteil wurde, erschütterte diese dann doch, denn plötzlich schossen Elsbeth die hellen Tränen aus den Augen, so daß sie ihr Gesicht schleunigst mit dem Taschentuch bedeckte.
„Verzeih mir bitte, Elsbeth!“ bat die Freundin leise. „Ich hätte es eigentlich wissen müssen!“
„Schon gut!“ sagte diese, als sie sich mühsam gefaßt hatte, und lächelte Margot unter Tränen zu.
Mit einem Ruck hielt der Wagen an. Sie waren am Ziel. Noch einmal wischte sich Elsbeth über das Gesicht, dann öffnete sie die Tür und stieg aus. Das Fräulein Doktor war ebenfalls ausgestie gen, es nahm den Arm der Freundin und ging mit ihr auf das Friedhofsportal zu.
„Am liebsten würde ich jetzt mit dir gehen, Elsbeth!“
„Danke, Margot, es ist schon vorbei!“ sagte Elsbeth tapfer.
„Dann werde ich auf jeden Fall hier auf dich warten und später mit dir in die Stadt zurückfahren!“
Elsbeth nickte dankbar und schritt durch das Tor davon. Margot Fuhrmann sah ihr nach, bis sie hinter einer Koniferengruppe verschwunden war. Dann ging sie am Ufer des Großen Sees entlang und dachte nach über das soeben geführte Gespräch.
Das Menschenherz ist doch ein seltsam Ding, dachte die Ärztin, der das Geschick der Freundin sehr naheging und die noch nicht so schnell fertig werden konnte mit dem, was sie heute von Elsbeth gehört hatte. Sie kannten sich nun schon über zehn Jahre und waren immer miteinander befreundet gewesen. Und trotzdem: was wußte man denn schon voneinander?
Die Schulzeit hatte ihnen eine richtige Jungmädchenfreundschaft beschert mit allen Freuden und gemeinsam getragenen Sorgen. Zusammen hatten sie geschwärmt und gehofft, waren ihren Träumen nachgejagt und hatten die ersten kleinen Enttäu schungen des Lebens getragen. Dabei waren sie sich sehr nahe gekommen, so nahe, daß sie sich ewige Freundschaft schworen.
Aber wie das noch stets im Leben gewesen ist, so war es auch bei ihnen gekommen: als der Alltag in seine Rechte trat und sich ihre Lebenswege trennten, hatte sich auch in ihr herzliches Verhältnis eine zuerst kaum merkliche Entfremdung eingeschlichen. Margot, die Arzttochter, fuhr zum Studium nach München, um ebenfalls Ärztin zu werden; Elsbeth jedoch, die Tochter des Großkaufmanns Uwe Jakoibsen, die es nicht nötig hatte, einen Beruf zu ergreifen, folgte der Tradition ihrer Familie und ging für ein Jahr in ein Schweizer Pensionat.
So waren sie zwar räumlich auseinander gekommen, aber zu jener Zeit gingen noch regelmäßig ihre gefühlvollen Briefe hin und her. Bis Elsbeth dann eines Tages Walter Haurand kennen lernte. Auch jetzt schrieben sie sich noch in weiten Abständen, aber ihre Briefe atmeten nicht mehr die gleiche Herzlichkeit, sie wurden sachlicher, und das unter Freundinnen so stark ausgeprägte Mitteilungsbedürfnis schwand mehr und mehr dahin. Es war, wie es immer war mit Mädchenfreundschaften: sobald ein Mann dazwischentrat, war es aus mit ihnen.
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