„Ja, ich will!“, sprach Finn und dachte, nichts leichter als das. Streifte er doch sehr gerne auf den Wiesen und in den Auen des Schwemmsandlandes umher. Eine Blüte vom Kraut der Bescheidenheit würde er mit Leichtigkeit finden, nicht ahnend, was er dabei für gefährliche Abenteuer würde bestehen müssen.
Ob ihm das Menschenmädchen, dessen Namen er immer noch nicht wusste, dabei helfen konnte?
*
Finn machte sich also auf den Weg in Richtung Parthe. Aber wo die Wanderung beginnen? Am besten wäre, von der Parthenquelle bis zur Mündung in die Weiße Elster zu laufen, immer mit dem Wasserstrom, entlang der Uferböschung durch Wälder und Wiesen streifend.
Die Sonne stand schon hoch am Himmel. Finn hatte den Weg über ein Feld mit goldgelben Getreideähren eingeschlagen, das sich weit vor ihm ausdehnte. Am anderen Rande des Ährenfeldes führte der Pfad auf eine geräumige Fläche hinaus. Und Finn stand vor den Toren eines großen Bauernhofes.
Es war Mittag und die Sonne brannte gnadenlos vom wenig bewölkten Himmel herab. Er hatte vergessen, seine Trinkflasche in den Rucksack zu packen und nun blieb ihm nichts weiter übrig, als den Hof zu betreten und um ein Glas Limonade zu bitten.
Sperlinge meldeten ihn fröhlich an. Die Schwalben unterm Dachfirst hatten keinen Blick für ihn, sie fütterten ihre nimmersatten Jungschnäbel. Auch Finns Magen begann zu knurren. Irgendjemand schien Kuchen und Brot zu backen. Ein lieblicher Duft stieg in den Himmel hinauf.
Der junge Troll trat in das Haus und gelangte über einen breiten, weiß getünchten Flur in eine geräumige Küche. Die Bauersfrau stand am Herd und schälte Äpfel.
„Guten Tag. Mein Weg ist noch weit und in der Sonnenglut versagen meine Beine ihren Dienst. Darf ich eine kleine Rast machen und ein großes Glas Limonade bekommen?“
„Hier ist keine Gaststätte“, antwortete die Frau barsch und schälte ihre Äpfel weiter. „Der Kuchen muss auch noch fertig werden.“
Finn drehte sich augenblicklich auf seinem Schuhabsatz herum und wollte wieder von dannen ziehen, da sprach die Frau: „Nun gut, es war nicht so gemeint. Setz dich.“
Erleichtert ließ er sich auf den hölzernen Stuhl am großen Tisch fallen. „Kann ich beim Äpfelschälen helfen?“
„Lass nur gut sein. Stärke dich erst einmal mit frischem Brot und Wasser. Und dann erzähl mir, was dich in unsere Gegend verschlagen hat.“ Nebenbei stellte sie noch ein Näpfchen mit Salz, einen Schmalztopf und frische Brühgurken vor seine Nase.
Finn ließ es sich munden und erzählte von seinem Vorhaben.
„Du suchst das Kraut der Bescheidenheit? Davon habe ich auch schon gehört. Damals war ich in deinem Alter, gefunden habe ich es nie. Früher, übrigens, bekam ich von meinem Vater eine Backpfeife, wenn ich mehr wollte, als ich gebrauchen konnte.“
Ihm blieb der Bissen im Halse stecken und seine Ohren begannen hitzig und rot zu werden. Hatte er doch recht ordentlich bei der Mahlzeit zugelangt, als ob er wochenlang nichts zu essen bekommen hätte. Mit der Hälfte der Ration wäre er auch satt geworden. Oh, kleiner Finn, du musst noch viel lernen ...
„Der Weg, den du eingeschlagen hast, ist richtig, gehe ihn nur guten Mutes. Am Ende wird es sich gelohnt haben. Gleich hinterm Haus führt er weiter und bis zum Nachmittag hast du die Parthenquelle erreicht.“
Sogleich sprang er auf, bedankte sich brav für die gute Bewirtung und eilte zur Tür hinaus. Was mag das nur für ein Kraut sein, das er finden soll?
*
Am Ziel angekommen, dem Beginn der Wanderung, ließ sich Finn erschöpft in das weiche Moos fallen. Erst einige Zeit später entdeckte er neben sich ein freundlich dreinblickendes Mütterlein, das in fließendes Gewässer gehüllt war und Augen wie dunkle Seen hatte. Als sie zu sprechen begann, war es, als hörte Finn einen sachten Sommerregen auf das Blätterdach des Waldes niedergehen.
„Ich bin Hannah, die Wächterin der Parthe und deren Wiesen und Auen im Schwemmsandland. Du hast mich gefunden und ganz bestimmt einen Wunsch, den ich dir erfüllen kann.“
Ihm fielen zwischen ihren Haarsträhnen kleine grüne Wasserlinsen auf und am Rocksaum waren bläulich schimmernde Fische aufgestickt. „Kannst du mir helfen? Ich suche das Kraut der Bescheidenheit.“ Schnell schickte er noch ein „Bitte“ hinterher.
„Suchen musst du es selber, aber ich werde dich auf deinem Weg begleiten, mal sichtbar, mal unsichtbar“, versicherte Hannah. „Damit sich dein Blick weitet für die Schönheiten der Natur, nimm einen Schluck von meinem Himbeersirup und vermische ihn mit Sprudelwasser aus der Quelle. Es wird dir frische Kraft geben.“
Finn tat, wie ihm geheißen, musste sich allerdings für seine Tat sehr überwinden. Als er seinen Becher mit dem kostbaren Nass füllen wollte, stieg ihm ein fauliger, unangenehmer Duft in seine Nase und er rümpfte diese sogleich. „Nur zu, tu dein Werk. Das Wasser ist sauber, schmeckt köstlich und wird dich erfrischen. Lass dich nicht vom Namen des kleinen Baches abschrecken. Er kommt aus der uralten slawischen Sprache und bedeutet nichts anderes als: die Stinkende.“
„Die Stinkende – das trifft es wirklich!“, meinte Finn.
„Kannst du dir erklären, warum das so ist? Nein? Ich erzähle dir eine überlieferte Geschichte ...“
Der Parthenquelle wurden Heilkräfte nachgesagt. Vor vielen Hunderten von Jahren gab eine gierige Dame den Auftrag, einen ganzen Badezuber voll Heilwasser zu ihr zu bringen. Ihre Untergebenen passten eines Nachts den günstigsten Moment ab und schöpften alles Wasser aus der Quelle. Die Quelle versiegte fast und kein menschliches Wesen fand sie wieder. Der Geschichte nach geriet das kostbare Nass in Vergessenheit und schließlich erinnerte sich niemand mehr an den Ort. Aber vor einiger Zeit wurden wieder die Geschichten über die sagenhaften Kräfte des Brunnens wach. Irgendjemand entdeckte den Zugang zur Quelle. Die Kunde, es gäbe eine Quelle, die Heilkräfte hätte und alle Wünsche erfüllen könnte, lockte viel Gesindel an. Diese äußerten ihre Wünsche, die nur aus Habgier und Eigennutz entstanden. Sie erhielten nie das, wonach sie sich sehnten, sondern das, was sie verdienten, denn sie waren zu gierig. Das machte sie erst recht wütend und ein großes Unglück brach über die Menschen und das Land herein. Seitdem blieb die kleine Wasserader verborgen hinter einem Netz aus Morgentau, Nebel und Blattwerk. Und aus Trotz kroch sie übel riechend aus dem Erdreich hervor. So kam die Parthe zu ihrem Namen und nur demjenigen erfüllt sie Wünsche, der mit einem Schluck Wasser zufrieden ist oder für andere Menschen um Hilfe bittet.
„Das ist ja eine fast unglaubliche Geschichte“, meinte Finn und nahm beherzt einen großen Schluck vom frischen Nass. Und nun noch einmal recken und strecken, dann war er fast schon wieder auf dem Sprung.
Hannah mahnte ihn: „Nicht so schnell, mein kleiner Freund! In ungefähr zehn Stunden bist du von der Quelle bis zur Mündung gelaufen. Eilenden Schrittes, ohne Pause und keinen Blick auf die Umgebung verschwendend. Nimm dir Zeit! Schau dich um, auf den Boden, in die Luft, neben dem Weg, nur so wirst du das Kraut entdecken und andere schöne Erlebnisse haben. Und nun lauf los, du bist ja schon ganz unruhig.“ Finn zupfte nochmals an seinem Halstuch, suchte sich einen abgebrochenen Ast als Wanderstock, füllte erneut seine Flasche mit dem köstlichen Quell und begab sich weiter auf Schusters Rappen.
„Verlauf dich nicht!“, rief Hannah besorgt hinterher, doch der kleine Troll war bereits hinter der nächsten Wegbiegung verschwunden.
*
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