„Dieser Gefahr müssen wir begegnen ...“ Der Justizrat machte eine Pause, als ob er auf das leise Wallen seines Gehirns achtete. „Wir brauchen ja nur einen allgemein verbindlichen Preis festzusetzen, den jede Fabrik festhalten muss. Auf diese Weise bestimmen wir den Preis auf dem Weltmarkt.“
„Und Chile unterbietet uns.“
„Das wird nie möglich sein, wenigstens nicht für Europa.“
Leopold Weltzer ahnte etwas wie eine Gefahr. Blitzschnell überflog sein scharfer Verstand alle Möglichkeiten. Wenn ein Preis festgesetzt wurde, dann waren die Vorteile aus seiner Entdeckung ausgeschaltet. Das grosse Geschäft lag ja gerade darin, dass man billiger liefern konnte als die Licenzfabriken der anderen Länder.
Die Verhandlung stockte. Das Wort verkroch sich in die Winkel der Gedanken. Die Herren schlürften ihren kaltgewordenen Mokka und stiessen dicke Wolken aus ihren Zigarren.
Kommerzienrat Schönebeck tuschelte einige Sekunden mit seinem Sohne. Der kreuzte seine Blicke mit denen des Chemikers und fing eine ernste Warnung auf. Justizrat Bitter beobachtete den stummen Gedankenaustausch und sah seine These gefährdet. Deshalb machte er eine vorbeugende Bemerkung:
„Sie müssen den teuren spanischen Rohstoff kaufen. Lassen Sie die deutschen Zahlungsmittel sich noch mehr entwerten, so bleiben Sie immer konkurrenzfähig, wenn wir einen Syndikatspreis festlegen.“
Da plötzlich schnitt das Wort Leopolds wie ein Schwert durch die Luft:
„Nein, wir lassen uns nicht binden!“
Alle Waren verblüfft. Bisher hatte niemand den schlichten Gelehrten mit einer solchen Schärfe sprechen hören. Er war sonst immer geneigt nachzugeben und Kompromisse zu schliessen. Der Spanier merkte, dass die neutrale Zone überschritten war, und dass die Verhandlung am Stacheldraht des feindlichen Gebietes stand. Es musste etwas geschehen, um das einmal erwachte Misstrauen zu beseitigen.
„Wir haben die Frage der Preisfestsetzung nur im Interesse der deutschen Fabrik gestellt. Nehmen Sie an, dass die Mark noch mehr sinkt. Bei der enormen Verteuerung der Rohstoffe sind Sie dann nicht mehr konkurrenzfähig. Ein Gegenmittel würde die Preisfestsetzung für die Rohstoffe sein. Aber darauf haben wir keinen Einfluss, denn die Schwefelkiesgruben sind in den Händen des englischen Kapitals, und was der Engländer hat, das hält er mit allen Mitteln fest.“
Wieder griff Leopold ein:
„Das ist bedeutungslos. Wir wollen in einen festen Preis willigen, wenn Sie uns die Rohstoffe zu einem ebenfalls festen Preis an die Laderampe Hortwinkel liefern.“
„Das können wir nicht.“
„Dann lassen wir also diese Frage fallen.“
„Wir müssen sie aber trotzdem stellen“, hielt Bitter zäh fest.
„Gut, dann brechen wir die Verhandlungen ab.“
Leopold hatte die wenigen Worte mit eiserner Festigkeit gesprochen. Und nun erhob er sich:
„Ich glaube, die Damen werden ungeduldig.“
Alles, selbst die Freunde blickten den Chemiker überrascht an, wie er jetzt ganz ruhig, als ob garnichts geschehen wäre, nach der Tür ging. Moreto und Bitter standen gleichfalls auf und traten in den Erker, um sich leise eine kurze Zeit zu besprechen. Dann nahm der Spanier von neuem das Wort:
„Wir wollen den Abschluss nicht an einer Äusserlichkeit scheitern lassen. Daher verzichten wir auf eine Preisfestsetzung und auf die Licenz für Frankreich. Es genügt uns Spanien, Portugal und Italien.“
In diesem Sinne wurde die Vertragsurkunde vervollständigt, und nun setzte Moreto als erster seinen Namen darunter. Daneben vollzog der Kommerzienrat die Urkunde, und Justizrat Bitter zeichnete als Notar.
Nach dieser feierlichen Handlung rief der Hausherr nach Sekt. Alle waren aufgestanden. Der Diener goss in die schimmernden Kristallschalen das feinperlende Getränk. Es wurde freudig bewegt angestossen. Jede Partei glaubte, ein gutes Geschäft gemacht zu haben.
Nach dem ersten Glas drängten alle zu den Damen hinüber. Und nun flatterte der Geist des Geschäftes über die Veranda in die glühende Julinacht hinaus. Die Gesellschaft floss in einzelne Gruppen aus einander. Über die verschiedensten Fragen wurde gesprochen. Natürlich kam die Rede auch auf die auswärtige Politik. Die Temperatur der Geister stieg. Für und Wider die Regierung flogen wie Lanzen hin und her.
„Mein Gott,“ meinte Kommerzienrat Schönebeck, „seien wir doch gerecht gegen die Regierung! Man darf ihr als ehrlicher Mann nichts übelnehmen.“
Die Herren blickten überrascht auf den Sprecher, der als ein entschieden rechts gerichteter Mann bekannt war. Blossin sah Molkwitz merkwürdig an. Und der immer Streitlustige war auf dem Sprung, seinem Freunde an die Kehle zu fahren. Da fuhr dieser fort:
„Nun ja, nehmen Sie einmal an, ich würde jetzt in eine Schusterbude gesetzt und sollte einen Stiefel besohlen; natürlich brächte ich es mit dem angebornen Instinkt, den jeder praktische Mensch hat, irgendwie zuwege. Aber es würde lange dauern, und der Fachschuster würde mich verächtlich ansehen und im Stillen denken, der Kerl ist ein Pfuscher.“
Jetzt lachten alle vergnügt auf. Blossin platzte heraus. „Ich dachte schon, Schönebeck, du wärst unter die Demokraten gegangen.“
Justizrat Bitter fühlte den Stich, denn er gehörte zur Demokratischen Partei, und er verteidigte seinen Standpunkt.
„In England, in Frankreich, in Amerika regieren doch auch die Bürger, und nicht zum Nachteil der Nation.“
„Ja schon ... Aber die haben es gelernt. Deutschland ist weder eine Schule noch eine Gewerkschaft, sondern ein Volk von Blut und Leben, mit den allerverschiedensten Anlagen, Sorgen und Bedürfnissen. Man kann nicht in der Retorte experimentieren, wenn das Schicksal von Millionen auf dem Spiele steht.“
„Die regierenden Männer tun ihr Bestes.“
„Aber das Beste ist immer noch viel zu schlecht.“
„Sie werden Erfahrung sammeln. Man muss ihnen nur die genügende Zeit lassen.“
„Natürlich, dann geht es wie in der chirurgischen Klinik. Die Operation ist vortrefflich gelungen; aber der Patient hat das Zeitliche gesegnet.“
„Meine Freunde, lassen wir doch die leidige Politik, wir werden uns niemals einigen. Dazu sind die Gegensätze viel zu scharf ausgesprochen.“
Draussen spann die Nacht ihre letzten Fäden. Schon wirkte der Morgen blasse Strahlen in das dunkle Gewölk. Zwischen den Stämmen der vereinzelten Kiefern im Park warf der See seine dunkelblauen Edelsteinblicke herauf. In dem Schmollwinkel der Veranda sass Irma von Blossin mit Leopold Weltzer in einem tiefernsten Gedankenaustausch.
„Seele und Tod,“ träumte sie, „das sind die beiden grossen Probleme, die mein ganzes geistiges Leben beherrschen. Was ist die Seele? Was ist der Tod?“
„Der Naturforscher kennt nur den Tod der Welt.“
„Aber die Welt stirbt doch nicht.“
„O doch, auch die Welt stirbt. Ihre Elemente zerfallen radioaktiv und verwandeln sich in das träge Helium, das mit keinem andern Element sich zum Aufbau verschwistert. Dann wird die Welt ein grosser Totenhof.“
„Und die Seelen? Die können doch nicht vergehen?“
„Paulus hat ein geheimnisvolles, weitvorausahnendes Wort gesprochen, wenn ich nicht irre, im ersten Korintherbrief: ‚Wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden.‘ Die Materie zerfällt und verwandelt sich in sublimere Elemente, die wir nicht kennen, die vielleicht erst beim Zerfall entstehen, zur Stunde der letzten Posaune.“
„Sie zeigen mir eine neue Seite Ihres Wesens, lieber Freund: Den bibelfesten Naturforscher. Aber die Seele? Wird auch sie verwandelt?“
„Die Welt besteht aus zweiundneunzig Elementen, und jedes Gramm der Weltsubstanz ist eine Verbindung aller ... vielleicht ... vielleicht auch nicht. Auch die Seele ist ein solcher Wirbel von Elementen, Energieatomen, Elektronen.“
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