Ferdinand Runkel
Roman
Erstes bis fünftes Tausend
Saga
Stickstoff
© 1924 Ferdinand Runkel
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711593073
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
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Über den Kalksee bei Rüdersdorf schoss ein schlankes Motorboot; eine Dame lenkte sein Steuer, ein Herr sass ihr gegenüber und blickte unverwandt auf die schönen Mädchenhände, die mit zielbewusster Sicherheit das Rad drehten.
Die beiden Menschen sprachen kaum ein Wort; nur manchmal begegneten sich ihre Augen, und dann glomm eine leuchtende Feuergarbe auf. Sie verstanden sich auch ohne Worte.
Jetzt glitt das Boot aus dem Schatten der hohen Ufer heraus auf die schimmernde Fläche, wo die Wellen blitzten und spielten. Stolz wehte am Hintersteven die schwarzweissrote Flagge.
„Nun ist die schöne Fahrt bald zu Ende, wie danke ich Ihnen für die herrliche Stunde! Es war ein Seelenbad für den armen, müden Kopf, und es schwemmte die Laboratoriumsluft aus jeder Gehirnfalte fort.“ Seine Stimme hatte leise und zutraulich geklungen.
Die junge Dame sah auf und lächelte: „Wenn Sie wieder nach Blossin kommen wollen, rufen Sie vorher an. Dann hole ich Sie ab.“
„Ja, das werde ich gern tun.“
Er hatte dies ganz bescheiden gesagt, aber ein freudiges Glücksgefühl strömte dabei in sein Blut.
Sie konnten nicht weitersprechen; denn das Boot näherte sich dem Landungsplatze, an dem sich eine ganze Anzahl Menschen angesammelt hatte: Arbeiter aus den Nüdersdorfer Kalkwerken und der gewaltigen Stickstoffabrik, die hinter den waldigen Höhen lag.
Der weisse Schwan flog dicht heran, der Motor war abgedrosselt, und im nächsten Augenblick sprang der junge Mann auf die Brücke, um die Kette an einem eisernen Ring festzumachen.
„Wollen Sie nicht einen Augenblick nähertreten?“ fragte er. „Der Herr Kommerzienrat wird wohl noch im Büro sein.“
„Nein, nein. Ich will lieber gleich zurück. Eine Stunde habe ich mindestens noch zu fahren, und die Eltern kämen in Sorge, wenn ich nicht vor Abend zuhause wäre.“
Aus der Menge trat jetzt ein riesiger Arbeiter heraus. Ein höhnisches Lachen verzerrte sein Gesicht.
„Weg mit der Mörderflagge! — Genossen! Wollt ihr euch das gefallen lassen von dem faulen Junkerpack und den Kapitalstrolchen?“
Ein Murren ging durch die Menge, das der Riese zu seinen Gunsten deutete.
„Herunter mit dem Lappen!“
Schwerfällig trat er an das Boot heran und griff mit seiner mächtigen Faust nach der schwarzweissroten Flagge. Da trat ihm der schlanke junge Mann in den Weg. Seine Augen zischten im Feuer. Seine Lippen bebten.
„Hände weg! oder —“
„Was oder?“ grollte der Riese und ballte beide Fäuste.
„Um Gottes willen, Leopold, lassen Sie —“
Die Dame sprang auf und wollte die Kette lösen; aber der Arbeiter griff in den Ring und hielt das Boot fest.
„Herunter mit dem Lappen, oder ich werfe euch ins Wasser!“
Einen Augenblick stand Leopold unentschlossen. Dann strömte eine rote Blutwelle in sein bleiches Gelehrtengesicht. Seine grossen blauen Augen schossen blitzende Pfeile, und ehe der riesige Arbeiter sich’s versah, traf ihn ein Faustschlag gegen den Arm, dass er laut aufheulend die Bootskette fahren liess und sich in schäumender Wut gegen Leopold wandte. Der warf unerschrocken die Kette los, schob das Boot vom Ufer ab und rief dem jungen Mädchen mit zuckendem Munde zu: „Auf Wiedersehn!“
Leicht sprang der Motor an. Und das rassige Fahrzeug kam vom Ufer ab. Aber seine Führerin hielt es in der Nähe, um ängstlich den Fortgang der Ereignisse zu verfolgen.
Der Wutgeselle warf sich jetzt mit seiner ganzen Wucht auf den schlanken Jüngling. Er hob die riesige Faust und wollte sie wie einen Schmiedehammer auf den Kopf seines Gegners niedersausen lassen. Im selben Augenblick wurde er zurückgerissen, und es kam Bewegung in die Menge.
„Was, du willst unsern Herrn Doktor schlagen, du Viechkerl! Warte nur, wir werden dir was!“
„Lasst ihn nur, Freunde,“ rief jetzt der junge Mann. „Ich werde schon allein mit ihm fertig. Wozu hat man denn Boxen gelernt?“
„I wo —“ Ein mächtiger Heizer schob sich zwischen die Kämpfenden. „Herr Doktor dürfen sich an dem Vieh nicht die Hände beschmutzen. Das ist einer von den landfremden Hetzern, die jetzt überall die Leute in den Werken aufputschen. Den überlassen Sie mir!“
Im nächsten Augenblick unterlief er den Mann, hob ihn hoch und trug den schweren Körper wie eine Feder davon.
„Den liefere ich sicher auf der Bahn ab.“
Mit lautem Lachen folgte die Menge, und bald war die Landungsstelle einsam.
Irma lenkte ihr Boot wieder näher heran. Man sah jetzt, dass ihr Gesicht totenblass war. Aber ein glückliches Lächeln spielte um ihren edelgeschnittenen Mund.
„Gott sei Dank, das war eine böse Lage.“
„O nein ... Unsere Leute hätten mich schon herausgehauen, wenn’s nötig gewesen wäre. Aber ich hätte mich ganz allein mit dem Bären auseinandergesetzt. Sie haben wohl Sorge um mich gehabt, Irma?“
Ein warmer Strahl der schönen Augen antwortete ihm.
„Sie wissen, ich bin ein Proletarierkind, und Art hält zu Art. Meine Arbeiter gehen mit mir durch, wohin ich sie führe. Mein Kopf und ihre Fäuste sollen dem kranken Deutschland Genesung bringen.“
„Seien Sie, bitte, recht auf der Hut, der Kerl rächt sich.“
„Lassen Sie ihn, ich bin vorbereitet.“
Langsam wendete das Boot gegen die Mitte des Sees und schoss dann mit Vollgas in die glitzernde Wellenwelt hinaus. Der Jüngling stand lange und schaute dem fliegenden Schwan nach, bis er hinter der vorspringenden Landzunge verschwand. In tiefen Gedanken ging er zum Ufer hinauf. — — —
Der stille Bruder des Tags hatte seine beruhigende Hand auf die gewaltige Fabrik gelegt, die seit dem Krieg hier in den weiten Waldungen der Rüdersdorfer Gemarkung entstanden war. Die Nachtschicht begab sich gerade auf ihre Posten; denn die Arbeit darf nicht ruhen. Freundlich grüssten die Arbeiter den jungen Gelehrten.
Unablässig wird der Stickstoff aus der Luft aufgefangen, in Ammoniakgas verwandelt und in Schwefelsäure eingeleitet, um auf diese Weise das wertvolle Stickstoffdüngesalz, den Ammonsulfat, zu gewinnen. Schon in der Kriegszeit war hier eine Stadt entstanden, die sich vom Kalksee tief in den Forst hineingezogen hatte. Unten am See hat sich fast nichts gegen früher verändert. Nur ein schmuckloser Bahnhof als Endpunkt der Fabrikbahn und ein Ladekai am Ufer. Von den waldigen Höhen grüssen noch immer die hübschen Villen, wo Berliner Grossstadtflüchtlinge ihre Sommertage verleben oder alte Rentner den Abendfrieden zwischen Blumen und Waldesodem geniessen.
Folgt man der Bahn, die sich durch einen Taleinschnitt windet, so gelangt man an ein sauberes Arbeiterdorf. Leopold ist jetzt in die erste Strasse eingetreten, und sein Auge fliegt mit freudigem Stolz weit voraus. Wie aus einer Spielzeugschachtel aufgestellt, reiht sich Häuschen an Häuschen mit Ziergärten davor und Nutzgärten dahinter, angelehnt an die schönen, pinienartigen Kiefern des Rüdersdorfer Forstes. Wieviel Reizvolles haben hier Heimatliebe und Volkskunst geschaffen! Jedes Ästchen der abgeholzten Kiefern ist verwendet worden. Da findet man Gartentore, Blumenbretter, Lauben und Laubenmöbel in geschmackvoller Anlage, zum Teil durch Kerbschnitt, zum Teil durch bunten Anstrich verziert. Klematisgitter und Glyzinienspaliere klettern an den Hausfronten hinauf, Rosen umziehen die Wände. Einige der besonders veranlagten Arbeiterkünstler haben aus dem Abraum der nahen Kalkberge phantastische Bauten in ihren Gärten angelegt: Kleine Geröllhalden, auf denen Edelweiss wächst, Grotten und Brücken, die mit seltenen Pflanzen geschmückt sind, kleine Seen mit Goldfischen, überall die sinnvolle Tätigkeit, der natürliche Geschmack des deutschen Arbeiters. Liebe zur Scholle, Seele des deutschen Volkes in einer Sprache, die zur höchsten Poesie geworden ist, weil sie den Ton der Natur in glückhafter Weise veredelt.
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