Das Arbeiterdorf.
Hier ist Frieden und Glück, Zufriedenheit und ein sozialer Wohlstand, wie er in der brausenden Grossstadt, im Hetzen nach fernen Arbeitsstellen, im Getöse von Streikversammlungen, politischen Zänkereien und in der Stickluft des Klassenkampfes unmöglich ist.
Auf den Gesichtern der Frauen und Männer liest Leopold mit tiefer Befriedigung Behagen und Freude am schönen Heim. Wie ein Urmotiv steht da über einem besonders liebevoll geschmückten Häuschen: „Klein, aber mein.“
Und erst die Kinder! Alles sauber und nett. Sonne in den deutschen Augen, Sonne in den deutschen Herzen!
Da sitzt eine Gesellschaft mit ihrem jungen Lehrer, dem Kantor Schmölke, unter einer prachtvollen Kieferngruppe, die auf dem sogenannten Marktplatz von dem Erbauer aus dem Forst gerettet wurde, auf Rundbänken aus Naturstämmen. Es sind zwar Ferien; aber der Kantor hat sich seine Kleinen doch zusammengeholt, und mit der Geige unter dem Arm spricht er ihnen einen Text vor, den sie singen wollen. Er hat ihn selbst gedichtet auf eine bekannte Melodie.
Leopold bleibt stehn und lauscht den Worten.
„Das Glück begegnet allen
einmal in dieser Welt,
und goldne Sterne fallen
vom hohen Himmelszelt.
Dann hat uns Gottes Güte
unendlich reich gemacht,
dann geht des Glückes Blüte
uns auf in einer Nacht.“
Jetzt haben sie es begriffen. Es schwingt sich die Melodie auf den Kinderstimmen in die würzige Abendluft des Walddorfes. An den Fenstern der Häuschen erscheinen die Köpfe der Eltern, die Türen öffnen sich, und heraus treten die Männer und Frauen. Sie stellen sich im Kreise um die kleinen Sänger und lauschen mit stillem Glück den einfachen Worten und Tönen des Liedes.
Wenn die Kinder schweigen, ist es, als ob ein Engel durch das Dorf ginge. Nur fernher von jenseits der Hügel klingt dumpf das Geräusch der Maschinen, der schwere Atem der gewaltigen Fabrik, die wie ein mächtiger Riese arbeitet, um allen Heimat und Unterhalt zu schaffen.
Weithin erstrecken sich die Anlagen, hochragende Schornsteine steigen in den dunkeln Abendhimmel. Ausgedehnte Förderanlagen und Rohrbrücken sind Nerven- und Blutbahn des Industriekolosses. Die Bauten für die Verwaltung und für die Laboratorien nehmen eine grosse Fläche ein. Strassenlang Werkstätten, Kesselhäuser und Silobauten gleich ungeheuren Luftschiffhallen. Eine Märchenwelt aus Tausendundeiner Nacht. Die Luft, die wir atmen, wallt und siedet blauflüssig in Eimern. Wunder über Wunder reiht sich an. Die Gasfabrik. Eine Stadt von Gasometern, eine wild leuchtende Hölle. Flammen und Dämpfe in allen Farben des Regenbogens, Russ und Staub und finstere Gestalten, den Kyklopen der alten Sage ähnlich, getreue Wächter, die den Elementen wehren, die hier von dem Riesengeist des Menschen in Fesseln geschlagen und gehorsam sind, die wie kosmische Raubtiere knurren und fauchen, aber nicht schaden können.
Wut und Kraft sind hier zum Segen des Menschengeschlechtes in feste Bahnen gelenkt. Ausbrechen darf keins der Höllentiere, der fahlen, feurigen, bunten Teufelsgespenster. Man glaubt im Innern eines Vulkans zu sein, wo es rast und brodelt und Feuer atmet, während die Menschlein mit ihren kleinen Händen unzerreissbare Ketten schmieden, an denen sie die Weltdämonen wie gut dressierte Pferde leiten.
Welch ein Riese ist der Mensch! Ihm ist gegeben alle Gewalt auf Erden. Welch ein Riese ist das deutsche Volk! Und es sollte ihm nicht gelingen, die furchtbare Tributschuld zu tilgen?
Wenn es einig wäre, einig im Geist, einig in der Arbeit. Wer sich selbst hasst, den hassen auch die andern.
Das waren die Gedanken des jungen Chemikers, Doktor Leopold Weltzer, die ihm durch den ideenreichen Kopf gingen, als er langsam dahinschritt, um sein Geheimlaboratorium zu erreichen, wo er noch eine wichtige Untersuchung abschliessen wollte.
Er war ein Proletarierkind. Sein Vater war Schiessmeister in der Fabrik, die nach dem kleinen Walddörfchen „Stickstoffwerke Hortwinkel“ hiess. Von früh an schon hatte der junge Geist Leopolds aufwärts gestrebt. In der Schule fiel er durch seinen Verstand, seinen Fleiss und seine Willenskraft auf. Nicht wie andere Kinder spielte er mit Soldaten, Murmeln und Tieren, sondern mit der Puppenküche seiner frühverstorbenen Schwester. „Er wird einmal ein Koch werden“, meinte sein Vater, der damals in gutbezahlter Stellung in einer chemischen Fabrik am Nonnendamm wirkte. Der Fabrikdirektor, Kommerzienrat Schönebeck, hielt grosse Stücke auf ihn, weil er gewissermassen das Bindeglied zwischen Leitung und Arbeiterschaft war. Als der Kommerzienrat sich eine Villa draussen in der Nähe der Fabrik baute, um nicht so viel Zeit mit dem Hin- und Herfahren zu verlieren, zog Weltzer als Hausmeister in die Souterrainwohnung, und so kamen die Kinder der beiden Familien mit einander in Berührung.
Walter Schönebeck und Leopold Weltzer wurden Freunde. Aber es war eine merkwürdige Freundschaft. Wenn man die beiden neben einander sah, so hätte man Leopold für den Fabrikantensohn, Walter für das Proletarierkind halten können. Leopold feingliedrig, leicht, mit grossen blauen Sehnsuchtsaugen, Walter hochhäuptig, robust, starkknochig, dazu wild und rauflustig. Er war stets zu dummen Streichen aufgelegt, dabei störrisch wie ein junger Hengst, ein Kreuz für Eltern und Lehrer.
Er gehorchte keinem Menschen, tat immer das Gegenteil von dem, was man von ihm forderte, und machte sich unnütz, wo es nur irgend möglich war. Niemand hatte Einfluss auf ihn, weder Vater noch Mutter, noch die jüngere Schwester, ein zartes Sonnenkind, das in die Welt hineinträumte, Märchen las und auf die Fee wartete, die bestimmt kommen musste, um den Prinzen zu bringen.
Nur Leopold konnte auf Walter wirken. Mit seiner stillen, sachlichen Art machte er Eindruck auf den kraftbewussten, unbändigen Buben. Er brauchte nur zu sagen: „Aber nicht doch, Walter!“, dann sah der grosse Junge seinen Spielgefährten mit seinen dunkeln Augen an und liess von seinen Streichen ab. Eigenartig, wie die beiden zusammenstanden! Sie wussten ihre innersten Gedanken von einander, ohne dass sie ein Wort zu sprechen brauchten, und Walter ordnete sich stets dem überlegenen Verstand Leopolds unter.
Kein Wunder, dass die Eltern sich dieses wohltätigen Einflusses häufig bedienten, und wenn sie bei ihrem Sohne etwas durchsetzen wollten, so steckten sie sich hinter Leopold. Das fing schon damals an, als Walter gewisse Speisen nicht essen mochte, oder ein warmes Kleidungsstück im Winter ablehnte. Dann griff der Proletariersohn ein. Er hatte nur nötig, das Essen gut und das Kleidungsstück notwendig zu finden, sofort war Walter gleicher Meinung. Dasselbe Spiel ging in der Geistesausbildung weiter. Der Kommerzienrat hatte sich Leopolds angenommen und den hochbegabten Jungen mit seinem Sohn gemeinschaftlich unterrichten lassen.
Walter war nicht dumm. Aber er hatte für ganz andere Dinge Interesse als für diejenigen, die ihm der Hauslehrer vortrug. Es schien ihm viel wichtiger, dem bescheidenen Kandidaten einen Papierzopf an den Rock zu stecken, als seine lateinischen Vokabeln zu lernen. Leopold half dann immer beruhigend und fördernd.
Mit den Jahren zeigte es sich, dass die Vorliebe für die Puppenküche seiner Schwester nicht auf den Beruf eines Küchenchefs hindeutete, sondern auf den eines Chemikers, überhaupt auf die Naturforschung, die Zerlegung der Dinge in ihre Bestandteile und die Änderung ihres Charakters durch die Mischung.
Schon im Gymnasium, in das beide Freunde nach gründlicher Vorbereitung eingetreten waren, zeichnete er sich in allen naturwissenschaftlichen und mathematischen Fächern aus, während Walter mehr Neigung für Sprachen, für das Dialektische hatte. Als sie zur Universität gingen, stand es für Leopold fest, dass er Chemie studieren würde. Walter schwankte. Am liebsten hätte er sich den schönen Wissenschaften gewidmet; aber der alte Kommerzienrat drängte zum Rechtsstudium.
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