Die Dame des Hauses wies ihm seinen angestammten Platz neben Irma von Blossin an, die ihn mit einem kameradschaftlichen Händedruck empfing. Links von ihm sass Bettina, die Tochter des Hauses.
Das Verhältnis der beiden war ganz geschwisterlich. Sie hatten einander sehr gern. Aber wie das so häufig im Leben zweier Menschenkinder ist, sie standen sich viel zu nahe, als dass ein Liebesgefühl bei ihnen hätte aufkommen können. In der Kinderzeit waren sie eng verbunden gewesen, hatten die Schuljahre zusammen verbracht, und geistig floss so viel verwandtschaftliches Blut in ihren Adern, dass sie eben wie Geschwister wurden. Der Gedanke an Liebe war ihnen nie gekommen.
Leopold hatte keine Schwester. Überhaupt kein weibliches Wesen, mit dem er sich hätte aussprechen können. Seine Mutter? ... Ja ... Die Frau des Schiessmeisters war eine einfache Frau aus dem Volke, die ihren studierten Sohn bewunderte und verehrte und von jeher keine andere Sorge gekannt hatte als sein körperliches Wohl. Aber die feinen seelischen Schwingungen zu begreifen, das war nicht ihre Sache. Der in die höhere Gesellschaft aufgestiegene Proletariersohn musste eine reiche Frau haben, das war das mütterliche Urteil über das Wesen seiner Zukunft. Und wohl manchmal hatte sie an Bettina gedacht, wenn sie den freundschaftlichen Verkehr der beiden beobachtete. Aber Leopold hatte sie ausgelacht.
Wäre sie in der Gesellschaft gewesen, in der ihr Sohn verkehrte, so hätte sie andere Ansichten bekommen. Dort sah man Leopold Weltzer und Irma von Blossin bereits als zusammengehörig an. Niemals gab man Leopold eine andere Dame als Irma und niemals Irma einen anderen Kavalier als Leopold.
Der alte Blossin hatte den genialen Gelehrten besonders ins Herz geschlossen. Er war eine wissenschaftliche Natur und erst sehr spät zur Landwirtschaft gekommen. Ursprünglich Soldat. Als Junker war er beim Leibregiment in Frankfurt a. d. O. eingetreten und dort bis zur Kriegsakademie und zum Generalstab geblieben. Aus dem Generalstab kam er als Bataillonskommandeur wieder zu den Leibern. Aber es war nichts Rechtes mehr. Es hatte Unstimmigkeiten mit dem Regimentskommandeur gegeben, und Blossin war kurzerhand gegangen, um am Wolziger See seinen Kohl zu bauen.
In der Armee war man sehr überrascht. Dass ein so gut empfohlener, hochbefähigter Offizier ohne weiteres abgehen konnte, begriff kein Mensch. Gewiss, Blossin war immer ein Sonderling gewesen, ein Gelehrter, der all sein Geld in Büchern anlegte und schon auf der Akademie durch umfassende Kenntnisse verblüfft hatte. Aber auch für solche Offiziere ist Raum und Betätigungsfeld. Man verstand ihn nicht. Nur sein alter Freund Molkwitz wusste Bescheid. Er hatte zur selben Zeit, da Blossin Junker gewesen, im Leibregiment sein Jahr abgedient, und in den Leutnantsjahren, wo Molkwitz seine Pflichtübungen machte, waren die beiden Freunde geworden. Das hatte sich um so leichter gefügt, als ihre väterlichen Güter nahe bei einander lagen.
Molkwitz hatte damals, als der Konflikt mit dem Regimentskommandeur offen ausbrach, zu Blossin gesagt:
„Du bist kein Befehlsmensch, Radko. Naturen wie du werden dem äusseren Druck immer unterliegen. Und der Alte kann dir überall beikommen, denn du bist eben kein Frontsoldat und auch kein Bataillonskommandeur. Du wirst einmal ein Heerführer werden. Aber heute musst du dich dem Kleinen, rein Äusserlichen unterordnen. Dein Geist stösst sich an der rauhen Wirklichkeit. Anzug, Gewehrriemen, Einzelmarsch, Unteroffiziere, — darüber kommst du nicht weg. Das sind Dinge, die dir nicht liegen.“
„Was soll ich also tun?“
„Wenn man ein Mustergut wie Blossin hat, legt man den Degen aus der Hand und dient dem Vaterland als Bauer. Da kann man unter Umständen mehr nützen, als wenn man Armeen befehligt.“
Blossin nickte nur. Sagte kein Wort und reichte seinen Abschied ein. Es gab zwar eine Auseinandersetzung mit dem Obersten, dem die Begründung des Abschiedsgesuches nicht passte, aber Blossin bestand auf seinem Schein. Er hatte nämlich geschrieben, dass er an seiner Begabung zum Soldaten zweifle, da er von seinem Vorgesetzten in allen Dienstverrichtungen getadelt werde.
Das Abschiedsgesuch machte Aufsehen. Blossins Freunde legten sich beim Militärkabinett für ihn ein. Aber der Chef sagte trocken: „In der preussischen Armee hat der Vorgesetzte recht, und wenn Blossin im praktischen Dienst versagt, ist er eben kein so tüchtiger Offizier, dass man ihn halten müsste.“
So war er gegangen. Als das Urteil des Kabinettchefs ihm bekannt geworden, hatte er seinen Freunden ganz ruhig erklärt: „Er hat recht. Warum soll für mich eine besondere Wurst gebraten werden? Ich unterschreibe jedes Wort. Ein Offizier, der nicht in allen Zweigen des Dienstes tüchtig ist, soll sich einen Zylinder kaufen.“
Das Bücherlesen und die Beschäftigung mit den Wissenschaften waren ihm geblieben. Das hatte er mit nach seinem Rittergut genommen. Und als er mit Leopold Weltzer bekannt wurde, zog ihn dessen hochgeistige Persönlichkeit machtvoll an. Er sah in ihm die Zukunft des niedergebrochenen Deutschlands; denn er war der Meinung, dass nur eine grosse Geistestat das Vaterland retten könne. Aber eine Geistestat, nicht im Sinne des Volkes der Dichter und Denker, nicht eine Entzifferung alter Inschriften oder die Entdeckung verlorener Lautgesetze, nicht der Aufbau eines neuen philosophischen Systems, sondern eine Geistestat, die uns frei macht von der Abhängigkeit anderer Völker, die so gewaltig ist, dass die ganze Welt als Bittsteller vor den Toren Deutschlands steht, um teilzuhaben an dem Grossen, das aus deutschem Hirn und Herzen geboren wurde.
Es war oft an stillen Winterabenden gewesen, dass die beiden Männer so verschiedenen Alters vor dem breitbrüstigen Kachelofen sassen, in dem der Torf des Blossiner Moors sich in behagliche Wärme verwandelte, und über diese Erlösung Deutschlands sprachen.
Irma war meist im Zimmer anwesend und ruhte, die Hände im Schoss gefaltet, den Blick sinnend auf der weissen Bärendecke, in der ihre kleinen Füsse wühlten.
Sie sprach selten mit. Sie lauschte nur, wenn die Männer schwärmten.
Die leise sympathische Stimme Leopolds berührte ihr Herz wie Liebesmusik, und sie gab sich ganz dem süssen Zauber hin.
„Das Leben kämpft gegen die Vernichtung durch die Masse. Wer die Masse hat, dem gehört die Zukunft der Welt.“
Herr von Blossin schüttelte den Kopf: „Die Masse will nicht mit uns gehen. Die Masse ist urteilslos.“
„Wir haben nur bis heute nicht versucht, sie zu gewinnen?“
„Weil sie uns steinigen, wenn wir zu ihnen kommen.“
„Ich glaube es nicht. Wir müssen ihnen nur das rechte Herz entgegenbringen. Bisher haben wir den Fehler gemacht, ihnen Versöhnung der Klassengegensätze zu versprechen. Daran glaubt heute kein Mensch mehr. Wir müssen dahin kommen, dass es keine Klassengegensätze mehr gibt.“
„Ein Weltgesetz, das auch Sie, Doktor, nicht ändern werden.“
„Wenn es ein Weltgesetz wäre, hätten Sie recht. Aber es ist keins.“
„Oho, mein junger Freund! Sie wollen die Welt auf den Kopf stellen und uns dann erzählen, das wäre ihr natürlicher Zustand.“
Irma horchte auf. Ihre tiefen Augen ruhten mit einem Ausdruck von Sehnsucht und Sorge auf dem Gesicht des im Stillen so heiss geliebten Gelehrten:
„Ich glaube, dass Sie etwas sehen, was uns entgeht, Leo.“
Schon seit einiger Zeit nannten sie sich beim Vornamen, und die Eltern sagten nichts gegen diese vertrauliche Form.
„Nein, das muss jeder Mensch sehen. Die ganze Natur ist voller Gegensätze. Im Kampf ums Dasein ist der Mord Gesetz. Und doch herrscht überall die grösste Harmonie. Farbengegensätze, so schrill und schreiend, dass sie im Bilde das Auge beleidigen würden, finden Sie auf jeder Sommerwiese. Aber dort erscheinen sie schön. Und warum?“
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