Im Moment war vollkommen nebensächlich, was hier geschehen war. Ein Kind durfte nicht dermaßen leiden. Eine Mutter sollte so etwas nicht miterleben. Er musste eingreifen!
Max wusste, dass er sich einer Treppe näherte, die ins erste Untergeschoss führte. Was sich in diesem Untergeschoss befand, wollte ihm nicht einfallen. Aber ihm waren die Überreste der vielen Computer nicht entgangen. Oder die Räume voll zerbröselter Kacheln, in denen Metalltische vom Rost zerfressen wurden. War das hier so etwas wie eine Forschungseinrichtung? Könnte dort unten etwas eingesperrt gewesen sein, das entkommen war, als was auch immer geschah?
Die Mutter kreischte: »Lass sie los, lass sie los!«
Wurde die Kleine von einem solchen Etwas angegriffen?
Was auch immer vor sich ging, Max musste etwas dagegen unternehmen. Er befand sich an einem gefährlichen Ort, und dort vorne waren andere Menschen. Die ersten, die er gefunden hatte, seit er vor einiger Zeit zu sich gekommen war. Vielleicht wussten sie Bescheid. Und wenn nicht, konnten sie ihm immerhin dabei helfen, dem Geheimnis auf den Grund zu gehen.
Er griff sich im Laufen an die rechte Hand, spielte an dem goldenen Ring herum, der suggerierte, dass er verheiratet war.
Bestimmt habe ich auch Kinder, dachte er. Es zerriss ihm das Herz, die Kleine so leiden zu hören.
»Auaaa!«, kam es von vorne, hallend und jetzt ganz nah.
»Verschwinde! Du kriegst sie nicht, du … aaah!«
Max reduzierte das Tempo, um nicht die Treppe hinabzustürzen. So schnell es bei den herrschenden Lichtverhältnissen möglich war, tastete er sich nach unten. Die Stufen waren intakt, knirschten aber bedrohlich, wenn er sein Gewicht darauf verlagerte.
»Halten Sie durch!«, schrie er. »Ich bin gleich da.«
»Bitte beeilen Sie sich!«, schluchzte die Mutter.
Max erreichte einen Treppenabsatz und bemerkte das blaue Licht.
»Was zum …«
Zwei Schritte später sah er es. Das Wesen, das es nicht geben durfte. Es hatte das Mädchen zu Boden geworfen und presste lange, dürre Finger in dessen Gesicht, während es das Maul aufriss und etwas herausgleiten ließ, das aussah wie eine dornenbesetzte Zunge. Ein Arm des Mädchens war blutig, die Mutter lag ein Stück daneben, halb gegen die Wand gesunken, und hielt sich den Kopf. Unter ihrer Hand quoll ebenfalls Blut hervor.
Max’ Blick blieb einen Moment lang an ihr hängen. Sie hatte schulterlanges, rotes Haar, das an einer Stelle von einer weißen Strähne zerschnitten wurde. Ihr Körperbau war zierlich, das Gesicht ungeachtet der darin eingegrabenen Furcht hübsch. Die Kleidung, die sie trug, unterstrich ihre Vorzüge jedoch nicht. Jeans, dunkles Top, bequeme braune Schuhe. Keine Schminke. Sie wirkte auf Max nicht gerade selbstbewusst.
»Tun sie etwas, bitte!«, kreischte sie wie von Sinnen. »Es will ihr Gesicht fressen!«
Max hielt die Waffe bereits in der Hand. Ohne zu zögern, drückte er ab.
Die Kugel traf das Wesen in die Schulter. Leuchtende Flüssigkeit spritzte auf die Wand des Treppenhauses und rann gen Boden. Es wirkte auf Max wie eine bizarre Botschaft, die mit Geheimtinte geschrieben worden war.
Das Wesen fiel nicht etwa um, sondern fauchte erbost. Es sperrte den Rachen noch weiter auf und sah in Max’ Richtung. Die Krallenhände ließen den Kopf des Mädchens los und wurden drohend auf ihn gerichtet. Max starrte in das grässliche Gesicht hinein, das von innen zu glühen schien. Drei Augäpfel trieben in einer halbdurchsichtigen Masse aus Knochen und Zähnen, Blutgefäße wanden sich in alles hinein wie Maden. Es war das Hässlichste, was er jemals gesehen hatte, und der Anblick bannte ihn dermaßen, dass sein zweiter Schuss zu spät kam.
Er sah noch, wie das Monster sich anspannte. Doch als die Waffe in seinen Händen bockte, war es nicht mehr da. Max blickte sich panisch um, dann entdeckte er es wieder. Wie ein Irrwisch sprang es auf ihn zu, stieß sich von Treppenstufen und Wänden ab, als würde es der Schwerkraft nicht unterliegen. Dass es verletzt war, konnte man lediglich der Spur aus leuchtenden Spritzern entnehmen, die es hinterließ.
Max schoss, wieder und wieder. Aber das Vieh war einfach zu schnell für ihn.
»Passen Sie auf!«, schrie die Mutter. »Oh Gott!«
Max passte auf, aber es half nichts. Schon war es bei ihm, umklammerte seinen Kopf, stach Krallen in seinen Nacken und schlug die Zähne in sein Gesicht. Er brüllte, die Schmerzen warfen ihn auf die Knie. Mit dem Griff der Pistole drosch er auf den haarigen Körper ein, dessen Moschusgestank nun in das drang, was von seiner Nase übrig war.
»Steh ihm bei«, hörte er die Frau noch kreischen. »GOTT, STEH IHM BEI!«
Dann fuhr das Monster die Zunge aus, leckte über seine Augen und riss sie ihm aus dem Schädel.
Birgit starrte zu der grausamen Szene hinauf und konnte ermessen, wie Jesus sich gefühlt haben musste, nachdem er ans Kreuz geschlagen worden war.
Gott hatte sie verlassen.
Sie wusste, dass solche Gedanken blasphemisch waren, aber spielte das noch eine Rolle? Das Wesen dort oben war nicht klassifizierbar, es glich nichts, was auf Gottes grüner Erde wandelte, und es war erfüllt von unstillbarem Hass. Sie sah sich einem Dämon gegenüber, daher würden weitere Sünden ihre Lage wohl kaum verschlechtern.
Der arme Mann schrie inzwischen nicht mehr. Aber seine Arme zuckten und seine Beine strampelten, während der Dämon sich immer tiefer in seinen Kopf hineinfraß. Obwohl sie nicht glaubte, dass es unter den gegebenen Umständen helfen würde, betete Birgit darum, dass er nicht mehr bei klarem Verstand war.
Es war ihr nicht möglich, den Blick von den erschütternden Vorgängen abzuwenden. Sie brannten sich dermaßen in Birgits Verstand, dass sie auf der Stelle versteinerte, als hätte sie ins Antlitz der Medusa geschaut. Sie wusste, dass sie gemeinsam mit Kati fliehen sollte, aber sie konnte nicht. Gleich würde der Dämon sich ihr zuwenden. Er würde sie fixieren, um sich dann abzustoßen und ihr Gesicht zu zerfetzen, bis es zu solch einer unförmigen Fleischmasse geworden war wie das des Wachmanns. Anschließend würde er sich Kati schnappen. Und es gab nichts, was sie dagegen tun konnte.
»Mami, Angst!«
Etwas warf sich gegen ihren Oberkörper und umschlang mit blutigen Armen ihren Kopf, aber es war nicht das Monster. Birgit roch Blumen, spürte Wärme, hörte ein Herz in schnellem Rhythmus schlagen.
Kati. Ihre Tochter. Sie hatte geschafft, was ihr nicht gelungen war, und als könnte sie ihre Kraft auf andere Personen ausdehnen, zerschnitt sie durch ihre bloße Anwesenheit die Fesseln der Angst.
Noch einmal regten sich die Mutterinstinkte in Birgit, griffen auf Kraftreserven zu, von denen sie bislang nichts gewusst hatte. Sie drängten das Dröhnen zurück, das seit dem Schlag zwischen Birgits Ohren hallte und erhöhten die Grundspannung sämtlicher Muskeln.
Birgit nahm Katis Kopf zwischen die Hände und sah ihr tief in die grünen, goldgesprenkelten Augen. »Mami beschützt dich. Aber du musst hier sitzenbleiben, okay? Kannst du das für mich tun?«
»Sitzen.« Kati nickte.
Birgit küsste sie auf die Stirn und war erfüllt von unbändigem Stolz. Obwohl die Verletzung sehr schmerzhaft sein musste, gelang es Kati, ruhig zu bleiben. Sie war so tapfer.
Birgit stand auf, wurde von Schwindel erfasst, streckte die Hand aus und stützte sich an der Wand des Treppenhauses ab.
Einige Stufen weiter oben lag der inzwischen reglose Körper des Wachmanns, an die Treppe geschmiegt und dermaßen zerfleischt, dass er auf grauenhafte Weise an rote Auslegeware erinnerte. Das Monster hatte von den Überresten des Kopfs abgelassen und sich dem Brustkorb zugewandt. Mit schnellen Bewegungen zerrte es unter Knacken und Knirschen Dinge hervor, die Birgit nicht sehen wollte. Sein blaues Leuchten versetzte zuckende Schatten in Bewegung, projizierte das Gemetzel an die Wände, umzingelte sie von allen Seiten mit unmenschlicher Grausamkeit.
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