Wenige Minuten nach der Entdeckung der toten Prostituierten hatte er dabei zugesehen, wie der Wachmann starb. Es war simples Pech gewesen. Der Kerl war in das falsche Zimmer gegangen, der Boden hatte plötzlich unter ihm nachgegeben und ihn verschluckt. Zwar hatte er sich noch für einige Sekunden an den Überresten der Dielen festgekrallt, doch zu seinem Unglück waren diese von den weißen Kugeln bewachsen gewesen, die überall dort zu haften schienen, wo etwas verfaulte – also an den meisten Orten innerhalb des Komplexes. Der Mann ohne Namen hatte beobachtet, wie die Kugeln platzten und zähen Schleim auf die Finger spien, die sich verzweifelt in sie bohrten. Es hatte gezischt, Dampf war aufgestiegen, der Wachmann hatte zu brüllen begonnen … und eine Sekunde später war seine Stimme in der Tiefe verklungen. Der Mann ohne Namen hatte in das Loch hinabgespäht, aber dort war nichts zu sehen gewesen. Keinerlei Regung in der Finsternis, der Abgrund war ihm bodenlos erschienen.
Er bedauerte den Tod des Mannes. Nicht, weil ein Leben ausgelöscht worden oder ein potenzieller Mitstreiter im Kampf ums Überleben verloren gegangen war, sondern wegen der Waffe, die das Gebäude verschluckt hatte. Er wünschte, er wäre rechtzeitig zu dem Mann geeilt. Im Austausch für seine Rettung hätte er die Pistole einfordern können. Oder sie dem Wachmann einfach abnehmen, während der noch an der Kante baumelte – immerhin war der Kerl kaum in einer Position gewesen, in der er großartig Widerstand hätte leisten können.
Aber so war das mit verpassten Chancen. Manchmal bot sich nur einmal die Gelegenheit für einen sauberen Schuss, und wenn man dann zögerte, entkam die Beute.
Die Jagdanalogien machten den Mann ohne Namen nachdenklich. War er vielleicht Jäger? Oder Abenteurer? Jemand, der die Gesellschaft von Tieren und wilder, unberührter Natur der von Menschen vorzog? Es würde vieles erklären. Einstweilen sollte es ihm genügen, entschied er.
Er musste etwas über sich wissen. Um nicht den Verstand zu verlieren, benötigte er irgendeine Art von Identität. Wenn er schon keinen Namen bekam, so würde er sich eine Profession aussuchen. Eine Sache, die beschrieb, was er war. Der Mann ohne Namen kauerte sich noch tiefer in die Schatten und taufte sich selbst auf den Namen »der Jäger«.
Ab sofort würde er nicht nur beobachten, er würde verfolgen und sich heranpirschen. Darin war er gut, es befriedigte ihn. Er tat es ohnehin schon die ganze Zeit über, nur hatte er es sich bis eben nicht eingestanden.
Als die Frau zum wiederholten Mal den Namen ihres Kindes schrie, klang es so weit entfernt, dass er sich hervorwagen konnte. Er hob gerade das Bein, um aus den Überresten eines Aktenschranks zu steigen, als Schritte herangetrampelt kamen.
»Wo sind Sie? Ich helfe Ihnen!«
Ein Mann rannte vorbei. Er verursachte so viel Lärm, dass jede Kreatur im Umkreis von mindestens einem Kilometer auf ihn aufmerksam werden musste. Er zertrampelte Knochen und Überreste von Mobiliar, trat Hindernisse aus dem Weg. Als er eine blockierte Tür erreichte, rammte er sie mit der Schulter. Holz zerbröselte, Splitter prasselten auf den mit Unrat übersäten Boden. Es war der Typ Superheld: athletisch, gutaussehend, Luft im Schädel. Dieser Mann hatte eine Frau in Not bemerkt und eilte ihr ohne nachzudenken zu Hilfe.
Wie der Jäger anhand der Uniform des Mannes sofort erkannte, hatte er hier einen weiteren Sicherheitsmann vor sich. Noch eine Pistole, die – dem primitiven Gebaren ihres Besitzers nach zu schließen – wohl bald herrenlos sein würde.
Während der Kerl sich trampelnd in Richtung der Schreie entfernte und dabei brüllte: »Ich bin gleich da, halten Sie durch!«, schlich der Jäger aus seiner Deckung und folgte ihm.
»Alter, du stinkst nach Pisse!«
Haralds Hand, die gerade dabei gewesen war, sich etwas zu entspannen, formte sich erneut zur Klaue. Sie stach ihm in die Brust, als wolle sie das stotternde Herz daran hindern, endgültig den Dienst einzustellen. Reflexartig trat er mit den Beinen aus, schob sich über den schmutzigen Untergrund, an der Wand entlang. Fort von der Stimme.
»Mann, komm klar! Ich tu dir nichts.«
Da stand jemand in der Türöffnung. Jemand oder etwas. Der Umriss war unförmig und hätte von so gut wie allem stammen können.
»Weg … geh weg!«, krächzte Harald und hob abwehrend eine Hand.
»Erst wenn du mir gesagt hast, was hier grad abging«, entgegnete die Gestalt und kam näher. Harald schrie auf.
An diesem Ort musste alles, dem er begegnete, schrecklich sein. Er malte sich die abartigsten Folterszenen aus; mittelalterliche Holzschnitte voll grausamer Darstellungen erschienen vor seinem geistigen Auge. Noch vor fünf Minuten hätte er jeden Gedanken an Dämonen oder die Hölle als lächerlich abgetan, aber dieses … dieses Ding … die riesige Zange, das Brüllen …
Ein weiterer Schrei entfuhr ihm. Er klang hoch und schrill. Es war der Laut eines hilflosen Wesens, das in der Falle saß.
»Mann, das ist echt übel.« Die Gestalt wedelte mit einer Hand in der Luft herum. »Als ob’s hier nicht schon genug stinken würde. Immerhin ist das Fenster im Arsch. Vielleicht bringt‘s ein bisschen frische Luft ja.«
Harald blinzelte, versuchte vergeblich, den Sprecher deutlicher zu erkennen. »Was willst du von mir?«
»Opa, ich will gar nix. Hab den Krach gehört und wollte nachschauen. Und jetzt finde ich hier ’ne abgefuckte Freakshow. Was bist du denn für ein Clown?«
Harald gab den Versuch auf, die Ereignisse verstehen zu wollen. »Wer oder was bist du?«
»Alter, was …« Die Gestalt zögerte und beugte sich vor. Harald wäre gerne noch weiter vor ihr zurückgewichen, aber die feuchte Wand ließ ihn nicht. »Du kneifst die Augen so zusammen … siehst du nix oder wie? Wart mal …«
Das Wesen wandte sich ab. Schritte erklangen, knirschend und schlurfend. Harald versuchte, auf die Beine zu kommen. Aber noch ehe er eines seiner arthritischen Kniegelenke durchdrücken konnte, war die Gestalt wieder da.
»Hier. Bin vorhin draufgelatscht, sorry. Aber vielleicht taugt’s ja trotzdem noch was.«
Etwas wurde ihm hingehalten. Harald starrte mit kurzsichtigen Augen darauf.
»Jetzt nimm schon, du Freak!«
Zögernd streckte Harald die Hand aus. Es musste ein Trick sein. Gleich würden die Pranken des Anderen nach ihm fassen, sein Handgelenk umschließen und nie wieder loslassen …
Er ertastete einen vertrauten Umriss. Kühles Metall, das zwei elliptische Formen umrahmte. Ein Paar dünne Streben, eine davon war verbogen.
»Meine … meine Brille?« Harald schluckte, obwohl sein Mund völlig ausgedörrt war.
»Was denn sonst? Mann, ich wusste, dass ich nicht hätte nachsehen sollen. Jetzt hab ich ein verdammtes Riesenbaby an der Backe.«
Haralds Finger mochten steif vom Alter sein, aber diese Bewegungsabläufe hatten sie tausendfach absolviert. Innerhalb von zwei Sekunden trug er die Brille im Gesicht. Eines ihrer Gläser fehlte, das andere war zerkratzt. Da einer der Bügel ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen worden war, saß sie schief. Trotzdem entfuhr Harald ein glückliches Schluchzen. Er konnte wieder anständig sehen!
»D… danke!«, stammelte er. »Vielen Dank, wer immer du b…«
Der Rest des Satzes blieb ihm in der Kehle stecken, als er seinen barmherzigen Samariter musterte.
Ich hätte es wissen müssen, dachte er. Bei der Sprechweise gab es praktisch keine andere Möglichkeit.
Es war ein Mensch. Natürlich war es ein Mensch. Ein verflixter Teenager! Seine schwarzen Haare waren mit Gel zu etwas geformt, das als modernes Kunstwerk hätte durchgehen können. Er trug ein T-Shirt, das mindestens fünf Nummern zu groß für ihn war, außerdem hatte er sich in einer Pose, die wohl lässig wirken sollte, einen Pullover mit Kapuze über die Schulter geworfen. Seine Beine steckten in einer dieser furchtbaren, auf Kniehöhe hängenden Hosen, die stets aussahen, als habe ihr Träger seine Ausscheidungen nicht unter Kontrolle.
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