Sie taumelte durch ein zerfallendes Labyrinth und hatte keine Ahnung, wie sie hierher gelangt war. Alles war weg, nicht einmal fundamentale persönliche Erinnerungen waren ihr geblieben. Birgit kam es vor, als hätte eine höhere Macht ihr Betriebssystem neu gebootet. Der Gedanke gefiel ihr nicht. Sie war eine gläubige Frau, und die Vorstellung, Gottes Zorn auf sich gezogen zu haben, war mehr als nur ein wenig beunruhigend.
Aber nichts davon war der Grund für die Furcht, die sie zu übermannen drohte, die sich in ihren Nacken krallte und ihr Herz bis hoch zum Hals schlagen ließ. Es war die eine Sache, von der sie wusste; die Erinnerung, die ihr geblieben war. Für Birgit war sie das Wichtigste auf Erden. Und sie war nicht mehr da.
»Kati!«, schrie sie noch einmal.
Ihre Tochter, ihre wunderhübsche Tochter! Sie war irgendwo hier drin, in einem Gebäude voll scharfer Kanten, Scherben und, dem allgemeinen Zustand der Zersetzung nach zu urteilen, allen Arten von Krankheitserregern. An jeder Ecke schien ein potenzielles Unglück nur darauf zu lauern, über das Mädchen hereinzubrechen.
»Hundi!«, hatte Kati gequiekt und war losgerannt. Im Gegensatz zu ihrer Mutter schien sie angesichts der Umgebung nicht im Mindesten verwirrt zu sein. Vielleicht, dachte Birgit, liegt es daran, dass ihr Verstand nach seinen eigenen Regeln funktioniert.
Kati hatte die Welt schon immer mit anderen Augen gesehen. Manche Menschen bezeichneten sie deshalb als zurückgeblieben, aber Birgit wusste es besser.
Als Kati davongelaufen war, hatte Birgit mit dröhnendem Schädel auf dem Boden vor dem Gebäude gelegen. Auf etwas, das einmal Asphalt gewesen sein mochte. Dunkle Krümel waren unter ihr zerbröselt, als sie sich mühsam herumgewälzt und die Hand nach ihrer Tochter ausgestreckt hatte. Doch es war längst zu spät gewesen. Kati war kichernd durch eine halb zerfallene, fleckige Betonwand geklettert, aus der Metallstangen ragten wie Gräten aus einem angefressenen Fisch. Eine gezackte Öffnung hatte das blonde Mädchen verschluckt, ihr blaues Kleidchen war das letzte gewesen, auf das Birgit noch einen Blick hatte erhaschen können.
Und jetzt war sie irgendwo hier drin. Allein, hilflos, ahnungslos. Sie verfolgte etwas, das sie für einen Hund hielt. Birgit betete im Stillen darum, dass es tatsächlich ein Hund war. Ein streunender, tollwütiger Kläffer wäre schlimm genug, aber es könnte noch viel schrecklicher werden.
Kati bezeichnete alles, was Fell und große Augen hatte, als »Hundi«. Selbst den zweieinhalb Meter großen Tiger im Zoo hatte sie so getauft. Und sie zeigte niemals Angst vor Tieren. Es war fast, als fehlte ihr dieser Instinkt vollständig. Birgit erinnerte sich an zahlreiche Nächte, in denen sie schweißgebadet hochgeschreckt war, davon überzeugt, ihre Tochter wäre von einem Bären, Löwen oder Wolf getötet worden, weil sie ihn ohne zu zögern in den Arm genommen hatte. Oder ein Auto hatte sie erfasst, auf das sie lächelnd zugegangen war …
Birgit blinzelte mehrmals, während sie sich darüber klar zu werden versuchte, ob das Zurückkehren dieses Gedankenschnipsels etwas Erfreuliches war oder nicht. Dann rief sie abermals nach ihrer Tochter, zwängte sich zwischen zwei rostigen Stahlträgern hindurch und betrat den nächsten Flur.
Hier war es so dunkel, dass Birgit kaum die Hand vor Augen sehen konnte. Sie befand sich tief in den Eingeweiden des Gebäudes, seine Verdauungsgase lagen schwer in der feuchtwarmen Luft.
»Kati? Wo bist du, Schätzchen?«
Mehrere Herzschläge lang war Birgit sicher, sie verloren zu haben. Sie hatte wahrscheinlich einen anderen Weg eingeschlagen, das Gebäude war so riesig, dass sie sie niemals rechtzeitig finden würde. Wahrscheinlich war sie längst in eine Spalte gefallen oder hatte sich an einer scharfen Kante den Hals aufgeschlitzt. Oder etwas hatte sie vor Birgit gefunden. Etwas mit Zähnen, das hungrig war.
»Hundi!«
Birgits Herz machte einen Satz und schlug anschließend noch schneller. »Kati? Kati! Wo bist du?«
Glockenhelles Kichern antwortete ihr aus der Dunkelheit, hallend und verzerrt, so als stiege es aus dem Gewölbe einer Krypta auf. Obwohl Birgit sich dagegen sträubte, blitzte ein Bild vor ihr auf. Kati, auf einem Altar, die Händchen über einem blütenweißen Kleid gefaltet. Ihre Augen waren geschlossen und man musste nicht erst die fahle Farbe der Wangen bemerken, um zu wissen, dass kein Leben mehr in ihr steckte …
»Nein!«, zischte Birgit. Etwas regte sich in ihr, straffte ihren Rücken, gab ihr Kraft. Entweder war es Gott, der ihren Willen stärkte, um sie durch das finstere Tal zu führen, oder es handelte sich um eine Macht, die nur eine Mutter verstehen konnte. Vielleicht traf ja beides zu.
»Ich komme, Süße! Warte auf Mami!«
Sie streckte die Hände aus und ging weiter. Obwohl ihre Augen sich allmählich an die Lichtverhältnisse gewöhnten, kollidierte sie ständig mit irgendwelchen Gegenständen. Manches davon erkannte sie – etwa das von Rost zerfressene Metallskelett eines Bürostuhls –, manches glaubte sie, zu erkennen – wie einen unförmigen Klumpen schleimbedeckten Kunststoffs, der entfernt an einen Kopierer erinnerte. Und wieder anderes wollte sie lieber nicht identifizieren. Die länglichen Umrisse zum Beispiel, die vollkommen von transparenten Blasen bewachsen waren und die Formen von in Agonie erstarrten Menschen annahmen, wenn man zu genau hinsah.
Sie wusste, dass Kati nicht warten würde. Kati tat so gut wie nie, was man ihr sagte. Nicht, weil sie ein unfolgsames oder gar böses Kind gewesen wäre, nein: Sie war einfach zu schnell abgelenkt. Eindrücke rauschten durch den Verstand des Mädchens wie Herbstwind über ein Feld voller Laub. Gedanken wurden aufgewirbelt und verteilten sich chaotisch, sobald Kati etwas Neues wahrnahm. Sie vergaß einfach, was man von ihr wollte, oft innerhalb von Sekundenbruchteilen. Angesichts eines »Hundis« war an das Befolgen von Anweisungen also im wahrsten Sinne des Wortes überhaupt nicht zu denken.
»Kati? Schatz?« Sie musste sie bremsen, Gegenimpulse setzen, um sie zu verlangsamen. »Was sagt der Frosch?«
Frösche waren Katis Lieblingstiere. Sie mochte sie noch mehr als Hunde. Würde jetzt einer an ihr vorbeihüpfen, hätte sie das andere Ding in Nullkommanichts vergessen.
Aber Birgit war froh, dass Kati nicht »Froschi« rief. Gott allein wusste, wie ein Wesen aussehen mochte, das ihre Tochter für ein Amphibium hielt – hier, an diesem Ort. Birgit war der Himmel mit den beiden Sonnen keineswegs entgangen, genauso wenig wie der rote Pflanzenbewuchs, der einige Meter jenseits des bröckelnden Asphalts begann, als hätte man eine Linie mit dem Lineal gezogen. Aber sie hatte diese Beobachtungen in einen entlegenen Winkel ihres Verstands gesperrt. Kati war das Wichtigste. Solange sie nicht in Sicherheit war, konnte ihr alles andere gestohlen bleiben.
Sie kam an mehreren Türen vorbei, die noch in den Rahmen steckten und wie kariöse Zähne vor sich hinfaulten. Ein Gewirr aus Kabeln baumelte von der Decke; mit dem Unterarm wischte sie es weg und sah sich gleich darauf einem Rechteck aus umfassender Schwärze gegenüber. Sie zögerte, und das rettete ihr vermutlich das Leben.
Birgits nächster Schritt trat in leere Luft. Sie schrie auf, ruderte mit den Armen und musste erkennen, dass sie das Gleichgewicht nicht halten konnte. Auf der Suche nach Halt griff sie um sich, kippte vornüber … und landete auf der obersten Stufe einer Treppe. Ein matschiges Knirschen ertönte. Offenbar war der Beton hier genauso marode wie im Rest des Gebäudes.
Sie atmete japsend, griff sich erst ans Herz und dann ins Gesicht. Kalter Schweiß blieb an ihrer Hand haften.
Das Kichern erklang wieder. Es war nicht mehr weit entfernt.
»Hundi ustig!«
Weiter, Birgit musste weiter! Sie streckte die Arme aus, ertastete rechts von sich eine feuchte Wand und stützte sich dagegen, während sie vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzte.
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