Was immer das Gras bewegt, strömende Luft ist es nicht.
Zweitens war keine Änderung bei den Farben auszumachen. Die Fensterscheibe war nicht der Grund für Haralds gestörte Wahrnehmung.
Entweder bin ich also tatsächlich verrückt, oder … oder …
Er hielt sich die blutende Hand. Verzweifelt legte er den Kopf in den Nacken, sah hinauf in den lilafarbenen Himmel … und keuchte entsetzt. Seine Augen waren zwar schlecht, aber nicht so sehr, dass er doppelt sah.
»Zwei«, stammelte er, »zwei Sonnen.«
Nichts stimmte, und doch war er nicht tot. Obwohl der Horror, der Harald plagte, geistiger Natur war, empfand er ihn als belastender als alles, was er in seinem Leben hatte ertragen müssen. Nichts kam diesem Entsetzen gleich, nicht einmal das Kauern im Graben, über ihm das Dröhnen von Geschützfeuer und die Blitze von Explosionen. Kalter Schlamm im Nacken und stinkendes Gummi vor dem Gesicht, während um ihn herum seine Kameraden zerfetzt wurden oder Blut erbrachen, weil sie etwas von dem Gas eingeatmet hatten …
Das war schrecklich gewesen, über alle Maßen falsch und grässlicher, als Harald es sich vor dem Krieg hätte träumen lassen. Aber es war trotz allem rational erfassbar gewesen. Es hatte an seinem Verstand genagt, aber er hatte es nachvollziehen und somit irgendwann abschütteln können. Was er damals gesehen hatte, war das Schlimmste gewesen, zu dem die menschliche Rasse imstande war. Hier schienen jedoch Kräfte am Werk zu sein, die weit über die Fähigkeiten von Menschen hinausgingen, und das ließ Harald bis ins Mark erschauern.
Nun musste er doch urinieren, aber es lag nicht daran, dass seine Prostata noch weiter angeschwollen wäre. Die Angst drückte auf seine Blase.
Während er noch angestrengt versuchte, sein einziges Kleidungsstück nicht zu beschmutzen, geschah das Schlimmste.
Erst spürte er es mehr, als dass er es hörte. Sinne, die im grausamen Überlebenskampf geschärft worden waren, ließen sich auch vom Alter nicht gänzlich abstellen. Mit plötzlicher Gewissheit wusste Harald, dass sich etwas näherte. Etwas Bedrohliches. Es musste das Klirren des Glases gehört haben, oder sein Gejammer. In wenigen Sekunden würde es vor dem Fenster stehen.
Harald biss sich auf die Unterlippe und ging in die Hocke. Seine Oberschenkel brannten, die Muskeln waren seit Ewigkeiten nicht dermaßen gedehnt worden. Die Knie knallten so laut, dass der Feind es mit Sicherheit hörte. Schmerzen schossen in die Gelenke. Harald musste sämtliche Willenskraft aufbieten, um den Mund geschlossen zu halten. Er presste sich an die fleckige Wand unterhalb der Fensterscheibe und versuchte, seinen Atem unter Kontrolle zu bekommen.
Ein Schnauben ertönte, tief und voluminös. Was immer dieses Geräusch ausstieß, verfügte über einen Brustkorb, der mindestens so groß wie der eines Elefanten war. Dann folgte das Schnüffeln. Langsam, fast gemächlich, feucht und zischend. Ein Schatten verdunkelte das Fenster und tauchte das Zimmer in Zwielicht. Harald nahm die blutende Hand vors Gesicht und biss sich auf die Knöchel. Panik mit Schmerz zu überlagern war ein Trick, den er schon in jungen Jahren gelernt hatte.
Das Ding klang wie ein monströser Hund. Und gleichzeitig nach so viel mehr. Bilder blitzten vor Harald auf, und im Gegensatz zu seiner Umgebung sah er sie gestochen scharf: Pelz. Schuppen. Zähne. Gezackte Mundwerkzeuge. Hörner. Antennen. Klauen und Giftdrüsen. Borsten. Gierige, rote Augen.
Das Wesen mochte sämtliche dieser Merkmale in sich vereinen oder keines davon. Klar war nur, dass es nicht stimmte. Genau wie alles hier.
Im nächsten Moment erzitterte die Wand in Haralds Rücken, als etwas Kolossales sich dagegen warf. Die Überreste der Fensterscheibe rieselten auf ihn herab, etwas schob sich in die Öffnung und füllte sie aus.
Harald konnte später nicht sagen, ob er deswegen nicht aufschrie, weil er im Kern noch immer ein abgebrühter Soldat war, oder weil der Schreck ihn lähmte. Er starrte nach oben, die Arme um den hageren Körper geschlungen, die Knie zitternd.
Es war eine Art Bein. Eine Extremität, mit einem zangenförmigen Greifwerkzeug am Ende. Sie war anthrazitfarben und gepanzert. Wie die Platten einer Ritterrüstung umschloss festes Material das Ding, nur an den Gelenkstellen klafften Lücken. In diesen Spalten war helles Fleisch zu sehen, voller Schleim und durchzogen von fingerdicken, türkisfarbenen Blutgefäßen. Die Zange selbst bestand aus drei Gliedern, einem größeren und zwei kleinen. Jedes davon hätte Harald problemlos umfassen können. Und jetzt stocherten sie hinter dem Fenster herum.
Ein fürchterlicher Gestank nach Fisch und Erbrochenem senkte sich herab, während die Greifwerkzeuge krachend aufeinander schlugen und Harald sich so tief duckte, wie es ihm möglich war. Dass er sich dabei an weiteren Scherben schnitt, nahm er kaum wahr.
Zwei-, dreimal fuhr die monströse Zange dicht über ihn hinweg, während das Wesen versuchte, noch tiefer in den Raum hineinzugreifen. Es verdeckte die Fensteröffnung jetzt vollständig und verwandelte das Zimmer in ein Durcheinander entsetzlicher Schatten.
Das Schnauben steigerte sich. Zuerst zu einem Grollen, dann zu einem dröhnenden, alles durchdringenden Fauchen. Staub rieselte herab, der Boden erbebte.
Harald schloss die Augen, schlug die Hände über dem Kopf zusammen, bedeckte seine Ohren mit den Unterarmen und ließ sich zur Seite fallen. Er konnte und wollte das nicht länger miterleben. Zwischen seinen Beinen wurde es feucht.
Dann herrschte plötzlich Stille.
Licht fiel auf Haralds geschlossene Lider. Ungläubig öffnete er sie und spähte nach oben. Das Wesen war fort, er hörte seine stampfenden Schritte in der Ferne verklingen. Es hatte den Versuch eingestellt, seiner habhaft zu werden.
Fürs Erste.
»Ich weiß jetzt, wo ich bin«, stöhnte Harald. Voller Scham sah er an sich hinab.
Er war tot und alles war anders. Aber das hier war nicht der Himmel. Er hätte sich denken können, dass einem Mann wie ihm etwas anderes blühte.
Tom Meyer war mächtig angepisst.
»Was soll die Scheiße?«
Sein Schädel dröhnte wie bei ’nem Mörder-Kater, er hatte keinen Plan, wo er war, und auch sonst wusste er nicht viel. Was auch immer er eingeworfen hatte, es ballerte ihn ordentlich weg.
»Fuck.«
Er lag auf dem Boden, im Staub. Seine Billabong-Hose war verdreckt, ebenso wie der Burton-Hoodie. Von den limitierten Nikes ganz zu schweigen. Schnell stand er auf, schwankte, stützte sich an etwas ab, das wie ein völlig vergammelter Tisch aussah, und klopfte sich, so gut es ging, den Schmutz von den Klamotten.
Pilze … es mussten Pilze gewesen sein. Vermutlich wirkte der Scheiß noch immer und ließ Tom Hallus sehen. Es waren bestimmt Hallus, denn er war noch nie an so einem abgefuckten Ort gewesen. Er musste besser aufpassen, wo er sein Zeug herbekam.
Aber wo bekam er sein Zeug eigentlich her?
»Fuck, Mann.«
Er erinnerte sich an überhaupt nichts. Alter, Adresse, Freundin … gab es eine Schnecke in seinem Leben? Er schätzte schon, denn aufgrund seines Outfits war klar, dass er rockte und die Weiber auf ihn standen. Aber er wusste es nicht mit Sicherheit. Möglicherweise war er auch nicht der Typ für eine Beziehung. Die Welt war groß, es gab scharfe Bräute an jeder Ecke und jemand, der es geschnallt hatte, konnte feiern und vögeln, soviel er wollte. Die Bitches brauchten es doch, man musste sich nur ansehen, wie sie herumliefen.
»Yeah«, murmelte Tom und nickte. Das klang nach ihm. So einer war er, zumindest so lange, bis die Pilze aufhörten zu wirken. Und falls er anschließend feststellte, dass er doch nicht so einer war, würde er eben einer werden.
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