Während er die Beine über die Kante von dem schwang, worauf auch immer er gelegen hatte, spürte er ein schmerzhaftes Scheuern. Er tastete prüfend um sich und versuchte, seinen von Hornhaut überzogenen Fingerspitzen etwas Gefühl zu entlocken. Eine Substanz blätterte aufgrund der Bewegungen ab. Er nahm Stückchen davon zwischen die Finger, worauf sie zu Krümeln zerfielen. Harald besah sich seine Hände. Wenn er sie dicht vor die Augen hielt, konnte er sie einigermaßen scharf erkennen. Die Kuppen seiner Finger hatten sich rötlich-braun gefärbt.
»Rost.«
Er saß auf einer korrodierten Metallfläche.
Ein Blick hinab zu der Stelle, an der seine Füße baumelten, enthüllte verschwommene, bleiche Dinger. Krumm und steif sahen sie aus, vom Alter entstellt. Gelbe Flecken hingen im trüben Weiß – Zehennägel. Wo waren seine Strümpfe geblieben?
Harald bemerkte, dass sein Pyjama ebenfalls fehlte. Das einzige Kleidungsstück, das an seinem Körper hing, war eine fleckige Unterhose. So ging er niemals zu Bett! Wenn er sich hinlegte, dann …
Ja, was dann? Was trug er, welche Rituale pflegte er? Putzte er sich die Zähne? Las er noch ein wenig? Oder schaute er sich den überdrehten Mist an, der im Fernsehen lief? Nahm er sein Gebiss heraus? Hatte er überhaupt ein Gebiss oder genoss er das Privileg, selbst im hohen Alter noch im Besitz seiner eigenen Zähne zu sein?
Furcht erkannte die Gelegenheit und kehrte zurück. Weshalb konnte er sich an nichts erinnern?
Er öffnete den Mund und umschloss die oberen Schneidezähne mit den Fingern. Ein saugendes Geräusch erklang, als er daran zog.
»Gebiss«, murmelte er. Wenigstens eine der Fragen war somit beantwortet. Was gab es abgesehen davon?
Harald wusste, dass er sich nicht in seiner Wohnung befand, er entsann sich der Farbe seiner Zimmerdecke und auch der Haltegriff über dem Bett war ihm nicht entfallen … aber sonst?
In welcher Stadt wohnte er?
Was tat er den lieben langen Tag?
Wie alt war er genau?
»Oh Gott, ich weiß es nicht«, stammelte er. »Mein Gedächtnis …«
Ein schockierender Gedanke folgte: Was, wenn ich mich doch am richtigen Ort befinde? Wenn ich nur vergessen habe, weshalb ich hier bin?
Jeder Mensch, der sich im Herbst seines Lebens befand, fürchtete ein Schreckgespenst mehr als jedes andere. Jetzt umkreiste es Harald wie eine aggressive Hornisse.
Demenz.
Womöglich befand er sich schon jahrelang hier, wachte jeden Morgen ohne Erinnerung auf und durchlebte diesen Mist. War dies hier ein heruntergekommenes Altersheim, eine schäbige Anstalt, in die man ihn abgeschoben hatte, damit er dort starb?
Harald hatte keine Angst vor dem Tod. Er wartete schon lange auf ihn, dessen entsann er sich. Aber auf diese Weise wollte er ihm nicht gegenübertreten.
Existierten Verwandte, die skrupellos genug waren, ihm so etwas anzutun? Hatte er überhaupt Verwandtschaft?
Das Gefühl der Unwissenheit war schrecklich. Obwohl er sich an einem Punkt seines Lebens befand, der von diesem Stadium weit entfernt war, kam Harald sich wie ein Neugeborenes vor, das unsanft aus dem Körper der Mutter gerissen worden war und nichts von der Welt verstand.
»Ich bin Harald Strehlau«, verkündete er, um sich selbst vor Augen zu führen, dass er nicht alles vergessen hatte. »Und ich bin kein Hasenfuß.«
Mit diesen Worten stand er auf.
Seine Füße trafen auf kaltes, hartes Material, Beton vielleicht. Steinchen bohrten sich in seine Haut, doch er verzog keine Miene. Haralds Körper hatte im Lauf der Jahre an Empfindsamkeit eingebüßt, und außerdem war er Schmerzen gewohnt.
Er schlurfte los, in Richtung des Fensters. Vielleicht würde ein Blick nach draußen seiner Erinnerung auf die Sprünge helfen.
Bei jedem stolpernden Schritt kickte er versehentlich Gegenstände vor sich her. Manche boten kaum Widerstand und verursachten keinerlei Geräusche. Sie glitten beiseite wie weggeworfene Taschentücher. Andere klapperten oder rasselten, als wären es Schrauben und Kettenglieder. Wieder andere klangen hohl und hell, Harald dachte an leere Joghurtbecher und dergleichen.
Er mochte Joghurt nicht. Daran erinnerte er sich.
Der Gedanke an kühle Milchprodukte gab ihm das nächste Rätsel auf: Ungeachtet der Tatsache, dass er praktisch nackt war, fror er nicht. Dabei wurde ihm eigentlich nie wirklich warm. Weshalb war ihm nicht kalt, obwohl der Boden ihm offensichtlich Wärme entzog?
Es war die Luft, wurde ihm klar. Das Klima innerhalb des Zimmers war schwül, dampfig, wie im Dschungel. Als würden die Verwesungsgase, die ringsum aufstiegen, die Umgebung aufheizen.
Er erreichte das Fenster. Der Sims auf Bauchhöhe war nur noch teilweise vorhanden. Morsche Splitter brachen unter Haralds Fingern ab. Die Scheibe selbst war etwa einen Quadratmeter groß und vollkommen verdreckt.
Er rieb mit dem Daumen darüber, und nachdem er zuerst rostrote Farbtöne in das Grau geschmiert hatte, legte er allmählich eine klare Stelle frei. Ein Lichtstrahl stach durch die entstandene Lücke.
Harald nahm jetzt die gesamte Hand zur Hilfe. Es war ihm egal, ob er schmutzig wurde – immerhin trug er keine Kleidung, die er dabei hätte ruinieren können. Das Glas knirschte immer wieder, und mit der Zeit erkannte Harald den Grund dafür: Ein Spinnennetz aus Rissen durchzog es. Er gab Acht, nicht zu fest zu drücken, damit die Scheibe nicht unter seiner Hand zerbrach und ihm womöglich die Pulsadern aufschnitt. Auch so wollte er dem Tod nämlich nicht gegenübertreten.
Langsam tat sich eine kreisförmige Fläche auf. Warmer Schein fiel herein und brachte Harald zum Schwitzen. Auch das noch! Er konnte sich nicht erinnern, wann seine Schweißdrüsen zuletzt etwas abgesondert hatten. Aber was hieß das schon – immerhin erinnerte er sich auch sonst an kaum etwas.
Er stützte sich keuchend auf die Überreste des Simses, beugte sich vor und spähte hinaus. Seine altersschwachen Augen offenbarten nicht viel, aber was sie sahen, war nicht dazu angetan, ihn zu beruhigen.
Wie es schien, befand er sich auf dem Land. Bis zum Horizont ragte nicht ein Umriss auf, der wie ein Gebäude wirkte. Stattdessen standen dort knorrige, verästelte Gebilde, die zu unregelmäßig geformt waren, um Bäume zu sein. Aus irgendeinem Grund glaubte Harald, in den verkrümmten, kauernden Formen eine Präsenz zu erkennen. Etwas, das sprungbereit lauerte. Aber das lag bestimmt an seinen Augen, immerhin sah er alles verschwommen.
Der Boden, der sich zwischen den Umrissen ausbreitete, schien bewachsen zu sein. Er war von einer Masse bedeckt, die leicht hin und her wogte, wenn der Wind durch sie strich.
Aber sie hatte die falsche Farbe.
»Gras ist nicht rot«, flüsterte Harald sich selbst zu.
Und der Himmel darüber, wolkenlos, mit der unerbittlich brennenden Sonne darin …
»Lila?«
Die Glasscheibe musste schuld sein. Oder seine Augen. Aber mit Farben hatte er eigentlich nie ein Problem gehabt, eher mit der Nah- und Fernsicht.
Dann spuckte Haralds Verstand eine Erklärung für sämtliche Unstimmigkeiten aus, und diese Erklärung klang so schlüssig und gleichzeitig erschreckend, dass sich etwas in ihm zusammenzog.
Bin ich vielleicht das Problem?
Er hatte offensichtlich nicht mehr alle Tassen im Schrank. Aus welchem anderen Grund sollte er in dieser Müllkippe hausen? Womöglich war alles genau so, wie es sein sollte, wie es schon immer gewesen war … bis auf ihn. Was, wenn er sich in seinem Wahn nur ausmalte, dass der Himmel blau und das Gras grün sein müssten?
Er begann zu zittern. Ein frustrierter Aufschrei brach sich Bahn. Haralds rechte Hand schlug, einem zornigen Impuls folgend, auf die verschmutzte Fensterscheibe ein.
Das Glas splitterte, eine Scherbe schnitt tief in die Handfläche hinein. Während Harald ein zischender Schmerzenslaut entwich, fiel gut die Hälfte der Scheibe in sich zusammen und verschaffte ihm zwei beunruhigende Erkenntnisse: Erstens ging draußen kein Wind. Nicht das leiseste Lüftchen kam durch die gezackte Öffnung hereingeweht.
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