Kandida sah mich lange mit erstaunt leuchtenden Augen an. Dann schüttelte sie ungläubig den Kopf. »Und auch das Durchscheinende«, sagte sie, »nein, ich korrigiere mich, das nur scheinbar Durchscheinende ist ›nur‹ eine meisterhaft erzeugte Illusion an diesem hocherotischen Modell! Gehen Sie und ergötzen Sie sich noch mal dran. Noch hängt das Foto ja da. Aber in ein paar Tagen ist es wahrscheinlich meins.«
»Tut mir leid, wenn ich als Lüstling erschienen bin.«
»Ohne das gäb’s auch das Kleid nicht«, sagte Kandida. »Sie haben einen guten Blick! Selbst Newton hat wahrscheinlich als Lehrling noch nicht gewusst, was Yva da ins Fixierbad gegeben hatte. Wenn sie beispielsweise für gewisse Fotos eine schon damals alte Kamera verwendete, hat sie auch die entlegene Gallussäure, eine Säure der Gallwespe, verwendet. Arktisch schöne Bilder, das sage ich Ihnen! Eine nie wieder so gesehene Körnigkeit wie aus feinstem Sandpapier und mit überirdischen Stichen ins Stahlblau. Diese Werke sind verschollen. Yva hatte auch sonst ihre Geheimnisse. Sie haben aber recht, Micah, in diesem Fall sogar die Punkte auf dem Kleid zu zählen. Leider sind nackte Menschen manchmal viel billiger als ihre Kleider.«
»Mancher kostet gar nichts«, sagte Adele, wohl aus einer gewissen Erinnerung heraus, und suchte mit ihren schelmisch sein wollenden Blicken meine Augen. »Mode ist auch nichts für diesen Winnetou. Wenn man diesen Fellträger aus dem Osten lässt, geht er komplett zu Sack & Asche einkaufen, und dafür braucht der dann keine fünf Minuten.«
Kandida ließ mich nicht aus ihren Augen. »Erzählen Sie noch mehr von dem Gepunkteten.«
»Ich möchte eigentlich nicht«, sagte ich und zwinkerte dabei Adele zu. »In Sachen Mode kann ich höchstens bei DDR-Einkaufsbeuteln mitreden.«
»Also die Wahrheit«, meinte Adele, »sagt er eigentlich doch ganz gern.«
»Jetzt gleich noch was zu dem Kleid«, sagte Kandida. »Yva hat es fotografiert, darum hat es heute noch diesen Geist. Das Modell ›Ruppin‹ aus dem Haus Tietz und Grünfeld ist aber gar kein Kleid, sondern ein besonders schöner Hausanzug. So etwas Elegantes gab es also mal. Ich bin immer noch ganz überrascht von Ihrer Wahl, mein lieber Micah! Ich besitze genau diesen Hausanzug auf ihrem geliebten Foto dort, habe ihn quasi geerbt!« Kandida sah mich mit feuchten Augen an. »Yva hat ihn nämlich meiner Großmutter geschenkt und ging dann zusammen mit ihrem Mann durch einen Schornstein in Majdanek. Dieser Hausanzug von Tietz und Grünfeld war danach für Großmutter tabu. Er gelangte zwar mit ihr nach Cali in Kolumbien, aber sie hat nie wieder einen Blick drauf geworfen. Dieser Hausanzug ist aus herrlich blau-weißen Crepe Satin. Nun wissen Sie auch die Farben, Micah. Es bleibt für Sie jetzt nur noch, nach Cali zu kommen und dieses Kleidungsstück in seiner Wirklichkeit zu bewundern. Allerdings leider ohne Inhalt.«
»Auf Yva!«, rief Adele mir zu. »Und auf meine Kandida, ein Modestar in Kolumbien!«
»Und wohl nur in Kolumbien«, sagte Kandida.
»›Nur in Kolumbien‹ ist gut!«, warf Adele ein, froh und zugleich sauer. »Dieses Land kennt inzwischen die ganze Modewelt!«
»Ach was. Ich wohne noch nicht mal in der Modehauptstadt Medellin, Schätzchen, sondern in Cali, und auch Biofashion interessiert mich nur in der Form, wie sie unser Micah eben beschrieben hat, nämlich als Inhalt.« Diesmal war es kein Tritt von Adele, sondern ein zunehmender Druck von Adeles Schuhspitze auf mein Schienbein.
»Aber Kandi!«, lachte Adele nicht gerade übermäßig engagiert. »Warum denn so bescheiden?«
»Ich und bescheiden? Ich bin natürlich viel besser als die meisten und nehme es mit Carolina Herrera auf.«
»Ich kann überhaupt nicht mitreden, höre aber sehr, sehr gerne zu«, sagte ich und glaubte mir sogar. »Dem, was du übrigens heute trägst, merke ich auch ein bisschen Yva an, oder?«
»Ganz ohne Yva geschieht wohl tatsächlich bei mir nichts. Die mein Kleid entworfen haben, nennen sich Jovenes Creadores. Das Modell heißt auf deutsch ›Blatt für Blatt‹. Es liegt ein bisschen in diesem neuen kolumbianischen Biofashion-Trend und ist trotzdem sehr gut.«
Ich sah mir Kandis Kleid jetzt durch das Kaleidoskop meines Rums an, drehte das geschliffene Glas dabei und erblickte ein Karussell, das unaufhörlich lauter Lappen in allen Goldfarben in sämtliche Richtungen verschleuderte. An diesem Rum und seiner Zentrifugalkraft würden alle Entzugskliniken scheitern.
Kandi schenkte wieder mal nach. Ich sah ein bisschen Zunge zwischen aufregenden Lippen und mich ziemlich stimulierende Nasenflügel.
Adele griff zur Flasche, ließ sie aber stehen und winkte ab. Kandi schenkte den Rest nach. »Deli, Schätzchen!«, sagte sie. »Hol doch gleich mal’n neuen Diktator aus mein’ Zimmer runter. Ich bin noch so kreuzlahm vom Fliegen! Und dann erzählt uns Micah eine Geschichte.«
»Ich riskiere es lieber ga nich ers«, sagte Adele mit einem erschreckten Schluckäufchen. »Ich fürchte, ich – fall dann die Trepp – phh – runter. Lass gut sein für heute, Kandi, ja? Und du da, Macrobius? Du muss doch no die Akten da an dein’ Bein durchkuck’n für morgen früh!«
»Wer ßu früh kommt, bestraft das Leben«, sagte ich zu Adele und wendete mich gleich an Kandida: »Mister Vodka Gorbatchov, please open this bottle!«
»Na toll. Isses ma wieder so weit?«, sagte Deli mit pikanter Bitterkeit.
Die Damen waren unter Ausrufen dick und ehrlich kandierten Entzückens auf die Beine gekommen, sie knuddelten und knutschten sich und konnten gar nicht glauben, dass sie sich wiedergefunden hatten in ihrem Zweier-Canadier, diesmal mit einem Steuermann.
Unter der runden roten Markise draußen über dem Eingang zum »Bogota« hörte ich Adeles Feuerzeug einige Male vergeblich schnappen. »Mensch, macht doch, wat ihr wollt, ihr – Schitzchens!«, hörte ich sie noch rufen. Das tat mir aber leid. Allerdings erst am nächsten Morgen auf dem Weg zu Boris Untied.
Kandida nahm dann im Bett ihren Laptop auf den Schoß, eine schnuckelige, unauffällige Fantasiehilfsmaschine, möchte man denken, um schöne Mode und kolumbianische Schönheit zu zeigen.
Kandidas Erzählungen aber, fand ich, waren eher noch verrückter und weitreichender als meine. Es sind aktive Erzählungen, meine waren erloschen, ihre musste man trinken wie heiße Schokolade, meine konnte man bloß knabbern, sie waren passé, gestanzt oder in Silberpapier eingewickelt, Kandidas Erzählungen aber sind fast alle noch mitten im Geschehen, und wer sie dennoch streng vertraulich hört, wird womöglich Mithandelnder. Kein bisschen davon werde ich also verraten.
Das taten in dieser Nacht ganz andere.
Wieso bloß habe ich nicht bei meinem neuen und hochgefährlichen Klienten mit diesen Horrorskypern, diesen Ratters gerechnet?
Wir erzählten jedenfalls in jener letzten Nacht der Unschuld in unserem Leben von früher bei Espresso und Rum, selbst noch beim Tanderadei und im halbwachen Schlummer. Es tut mir so leid, Kandida chida. Das Böse von heute ist völlig unsichtbar und gesichtslos, dagegen erscheinen mir die Stasifritzen, der schreckliche Unabomber von 1995 oder einer im Sprengstoffgürtel heutzutage fast wie Menschen von früher.
»Wie bist du eigentlich zu einem Job gekommen, wo man sein Geld in Amerika verdient?«
»Gut war vor allem, dass ich schnell mitbekommen habe, dass wir als gelernte DDR-Bürger a. D. mit den waschechten Amerikanern mehr gemein hatten, als man selber je hätte glauben können. Aber jetzt kannst du regelrecht zuschauen beim Langweiligerwerden, und auch mein Job verödet zusehends. Die Vereinigten Staaten dieser Geschichten gibt es nicht mehr.«
»Keine Geschichten mehr, Micky?«
»So fürchte ich. Jedenfalls nicht mehr solche. Es lohnt eigentlich nur noch das Diktatorversaufen mit dir, Preciosa.«
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