Was aber war inzwischen mit Gerd Grau passiert? Er hatte es in der Maschine von London nicht nur unterlassen, einige Fragen in den Papieren der Einwanderungsbehörde wahrheitsgemäß zu beantworten, zum Beispiel die, ob er Kommunist oder in irgendeiner kommunistischen Partei Mitglied oder Mitglied gewesen sei. Oder die, ob, wie lange und mit welchem Dienstgrad er zu einer militärischen Formation gehört habe. Er hatte alles durchgestrichen und geschrieben, er stehe ab jetzt unter keinem Befehl mehr. In Chicago wies er bei der Einwanderungsbehörde darauf hin, dass ein amerikanisches Abkommen mit den wiedervereinigten Deutschen in Kraft getreten sei, laut dem auf solche Auskünfte verzichtet werden solle.
Man ließ Gerd Grau rein in die Staaten.
Nun aber meldete der Zentralcomputer, dass ein Mann gleichen Namens, Alters und Geburtsortes ein kommunistischer Panzerhauptmann gewesen war. Dem inzwischen eingeschalteten FBI fiel auf, dass sich der Mann, zwar mit gültigem Pass für die erlaubten drei Monate Aufenthalt im Land, aber nicht ganz rechtmäßig in Chicago einen gebrauchten silbergrauen Chevrolet Corsica mit dem Kennzeichen DEN 2280, Illinois – Land of Lincoln gekauft hatte. Außerdem, schon auf dem O’Hare, sei er für drei Monate der American Automobile Association beigetreten, hätte eine Chipcard der IT & T erworben und telefonierte über einen Operator und die R-Gesprächszentrale in Frankfurt gleich zwei Stunden mit einem Teilnehmer in Leipzig. Da der Mann so gut wie kein Englisch sprechen konnte, aber anscheinend eine Menge Gespräche in den Staaten zu führen beabsichtigte, ließ er dies jemanden, der ihm vor allem nachts zur Verfügung stand, von Leipzig aus bewerkstelligen. Soweit überprüft werden konnte, gingen die meisten Anrufe anfangs in die Bundesstaaten Oklahoma, Arizona, New Mexico, South Dakota, Wyoming und Idaho ein und dort zumeist in den Selbstverwaltungsbehörden von Indianerreservationen. Vielleicht gehörte ja der Mann zu jenen verrückten Deutschen, die sich vor sich selber am liebsten in einer Rothaut verstecken würden.
Gerd Grau hatte Chicago dann auf der Interstate 20 in Richtung Westen verlassen. Auf Anfrage in Deutschland stellte sich heraus, dass der Mann tatsächlich der Vermutete war, gegen ihn aber nichts Nachteiliges vorlag und er im Juli 1990 seinen Abschied aus der deutschen Armee genommen hatte, weil er seinen »Warschauer Treueschwur nicht in eine NATO-Uniform umknöpfen« wollte. So hätte seine Beobachtung erst einmal eingestellt werden können, wenn sich nicht spätestens vom westlichen Ufer des Mississippi, von Dubuque im Bundesstaat Iowa aus, wo der Mann über Nacht blieb, mehr als merkwürdige Dinge ereignet hätten.
In der J.F.K. Street in Dubuque am Mississippi kaufte der Mann, der schon bald im alten Indianerwesten »The Mammouth of Humboldt«, mehr aber noch der »One-Stroke-no-Stroke-Man« genannt werden würde, 400 weiße, rosa und rote Seidennelken bei Hohneckers Fall Silk Flowers and Arrangements. Der Mann änderte nun seine Reiseroute und bog mit seinen 400 Kunstblumen auf dem Rücksitz seines silbergrauen Chevys nach Süden ab. »All for the death«, soll er, von einem Tankwart nach den Blumen befragt, angeblich gesagt haben.
Schon am Tag danach schien er in ein Massaker verwickelt zu sein, das der rotchinesische Student der Ökonomie Zhao Ping Guang auf dem Campus der staatlichen Universität von Iowa in Iowa City anrichtete. Dessen persönlicher Mentor, der dann ermordete Professor DeLendricies, hatte Zhao ein wichtiges Testat verweigert, was dessen ganzes Lebenssystem aus Fleiß und Erfolg zusammenbrechen und ihn Amok laufen ließ. Bei dieser unschönen Gelegenheit war der Seidennelkenmann für einige Sekunden und ganz im Hintergrund sogar bundesweit im Fernsehen als der One-Stroke-no-Stroke-Man zu sehen gewesen.
Mit Glück, wie er sagte, habe Foggy noch herausbekommen, dass kurz vor dem Attentat Gerd Grau ein großes Military-Surplus-Geschäft in Iowa City betreten hatte mit einem gelben Paket unter dem Arm, das möglicherweise ein Kleidungsstück enthielt. Dem Zeugen waren vor allem die vielen Kunstblumen im Chevrolet aufgefallen. Nach einer halben Stunde habe er gesehen, wie Gerd Grau in jener Jacke wieder auftauchte, die ihn zum One-Stroke-no-Stroke-Man machte. Dann sei er in sein Auto gestiegen und losgefahren Richtung Westen. Die Polizeikontrolle anlässlich des Attentats hundert Meter weiter habe er problemlos passieren können.
Einen Tag vor Deadwood bog also auch ich von der Interstate 90, die von Boston nach Seattle führt, ab nach Humboldt. Den One-Stroke-no-Stroke-Man, falls der tatsächlich Gerd Grau hieß, hatte man manchmal das »Mammouth von Humboldt« genannt. One-Stroke-no-Stroke kam mir verdammt bekannt vor, denn Ein-Strich-kein-Strich hieß die schlichte Felduniform der NVA, deren Jacke ich noch nicht mal beim letzten Umknöpfen in Zivil abgelegt hatte. Ich hatte nach der Armee nämlich eine heftige Phase des Angelngehenmüssens, wo ich die Ein-Strich-kein-Strich immer angehabt und mich kein Schwein von Fisch erkannt hatte. Das Kleidungsstück konnte ja schließlich nichts für Honecker und Mielke.
Humboldt war zur Hälfte dichtgemacht. Aber es gab noch eine riesige Kneipe. Ich war am frühen Nachmittag der einzige Gast. Die Kneipe war ungewöhnlich kahl, fast wie früher im Brandenburgischen. Ich trat an eine Wand, wo ein bunt bemalter Kasten ein pflaumengroßes Stück der Berliner Mauer enthielt. Der Wirt umarmte mich fast, brachte mir statt nur einem Stückchen eine ganze mittelgroße Blaubeertorte und setzte sich zu mir. Nach dem hierzulande wie ein Baseballendspiel im Fernsehen genossenen Fall der Berliner Mauer waren in den klassischen Indianerländern da und dort etliche Sehnsuchtsindianer aufgefallen, erzählte der Wirt von Humboldt.
Einmal war eine deutsche Busreisegesellschaft in vollem Federornat in Wounded Knee gesehen und von den Einheimischen wie Wesen von einem anderen Stern bestaunt worden. Man dachte erst, es wäre ein kleines Revival der Buffalo Bill Wild West Show gewesen, aber es seien alle nur Weiße im vollsten Federschmuck gewesen. Sie hätten behauptet, die Bowery Dakotas zu sein. Dass es die Bautzener Dakotas gewesen sein könnten, die es wirklich damals noch gab, hatte ich für mich behalten. Fürs Showgeschäft seien die aber nicht gerade tauglich gewesen und ob ich schon wüsste, dass das Showgeschäft, die Konservendose und der Stacheldraht in den alten Dakota Territories erfunden worden seien?
Freute mich zu hören, und so fragte ich gleich nach dem One-Stroke-no-Stroke-Man, dem »Mammouth of Humboldt«. Der Wirt nickte stark, als hätte er das erwartet, holte uns einen Whisky und erzählte von jener alljährlichen und überall im alten Indianerwesten beliebten Mammutschlacht der Erntemaschinen in Humboldt.
Die Maschine vom One-Stroke-no-Stroke-Man gehörte dem ziemlich armen Farmer Zatopek und war ein halbes Jahrhundert nicht mehr gefahren. Das spätere »Mammouth von Humboldt« reparierte und schmierte das Ding in einer Nacht beim Schein einer Petroleumlampe, die ihm Zatopek hinhielt oder auch mal heller schraubte. Anfangs wollte Zatopek noch dies und das erläutern oder gar was erzählen, aber das Mammut sagte »No!«. Beim dritten »No!« begriff Zatopek und hielt seine Klappe.
In aller Herrgottsfrühe warf das Mammut den Motor an. Er lief wie geschmiert. Zatopek wollte eine erste Runde drehen. Es war eine John Deere-Kombine von 1940. Sie hatte neben dem großen Fahrersitz noch einen kleineren für den Farmerssohn. Das Mammut holte Zatopek, der schon raufgeklettert war, wieder herunter. Er wollte ihn auch nicht auf dem Kindersitz bei sich haben.
Dann stieg er selber hinauf und fuhr ganz langsam eine grollende Acht. »General Yorck!«, rief er vergnügt und lachte. »The Winner is: General Yorck!!« Dieser General Yorck stieg wieder ab und tätschelte sein eisernes Pferd. Dann nahm er Zatopek die Petroleumlampe aus der Hand, sagte in einen Anschein der ersten Morgenröte hinein »Good night, Zatopek!« und ging davon.
Читать дальше