Titelseite Wilhelm Hauff Sämtliche Märchen Gesamtausgabe mit vielen Illustrationen
Märchen-Almanach auf das Jahr 1826 Märchen-Almanach auf das Jahr 1826
Märchen als Almanach
Die Karawane
Die Geschichte von Kalif Storch
Die Geschichte von dem Gespensterschiff
Die Geschichte von der abgehauenen Hand
Die Errettung Fatmes
Die Geschichte von dem kleinen Muck
Das Märchen vom falschen Prinzen
Märchen-Almanach auf das Jahr 1827
Der Scheich von Alessandria und seine Sklaven
Der Zwerg Nase
Abner, der Jude, der nichts gesehen hat
Der Affe als Mensch
Die Geschichte Almansors
Märchen-Almanach auf das Jahr 1828
Das Wirtshaus im Spessart
Die Sage vom Hirschgulden
Das kalte Herz (1)
Saids Schicksale
Die Höhle von Steenfoll: Eine schottische Sage
Das kalte Herz (2)
Impressum
Wilhelm Hauff
Sämtliche Märchen
Gesamtausgabe mit vielen Illustrationen
Märchen-Almanach auf das Jahr 1826
In einem schönen fernen Reiche, von welchem die Sage lebt, daß die Sonne in seinen ewig grünen Gärten niemals untergehe, herrschte von Anfang an bis heute, die Königin Phantasie. Mit vollen Händen spendete diese, seit vielen Jahrhunderten, die Fülle des Segens über die Ihrigen, und war geliebt, verehrt von allen, die sie kannten. Das Herz der Königin war aber zu groß, als daß sie mit ihren Wohltaten, bei ihrem Lande stehengeblieben wäre; sie selbst, im königlichen Schmuck ihrer ewigen Jugend und Schönheit, stieg herab auf die Erde; denn sie hatte gehört, daß dort Menschen wohnen, die ihr Leben in traurigem Ernst, unter Mühe und Arbeit hinbringen. Diesen hatte sie die schönsten Gaben aus ihrem Reiche mitgebracht, und seit die schöne Königin durch die Fluren der Erde gegangen war, waren die Menschen fröhlich bei der Arbeit, heiter in ihrem Ernst.
Auch ihre Kinder, nicht minder schön und lieblich als die königliche Mutter, sandte sie aus, um die Menschen zu beglücken. Einst kam Märchen, die älteste Tochter der Königin, von der Erde zurück. Die Mutter bemerkte, daß Märchen traurig sei, ja, hie und da wollte es ihr bedünken, als ob sie verweinte Augen hätte.
»Was hast du, liebes Märchen«, sprach die Königin zu ihr; »du bist seit deiner Reise so traurig und niedergeschlagen, willst du deiner Mutter nicht anvertrauen, was dir fehlt?«
»Ach! liebe Mutter«, antwortete Märchen: »ich hätte gewiß nicht so lange geschwiegen, wenn ich nicht wüßte, daß mein Kummer auch der deinige ist.«
»Sprich immer, meine Tochter«, bat die schöne Königin, »der Gram ist ein Stein, der den einzelnen niederdrückt, aber zwei tragen ihn leicht aus dem Wege.«
»Du willst es«, antwortete Märchen, »so höre: du weißt, wie gerne ich mit den Menschen umgehe, wie ich freudig auch zu dem Ärmsten vor seine Hütte sitze, um nach der Arbeit ein Stündchen mit ihm zu verplaudern; sie boten mir auch sonst gleich freundlich die Hand zum Gruß, wenn ich kam, und sahen mir lächelnd und zufrieden nach, wenn ich weiterging; aber in diesen Tagen ist es gar nicht mehr so!«
»Armes Märchen!« sprach die Königin, und streichelte ihr die Wange, die von einer Träne feucht war; »aber du bildest dir vielleicht dies alles nur ein?«
»Glaube mir, ich fühle es nur zu gut«, entgegnete Märchen, »sie lieben mich nicht mehr. Überall, wo ich hinkomme, begegnen mir kalte Blicke; nirgends bin ich mehr gern gesehen; selbst die Kinder, die ich doch immer so liebhatte, lachen über mich, und wenden mir altklug den Rücken zu.«
Die Königin stützte die Stirne in die Hand, und schwieg sinnend. –
»Und woher soll es denn«, fragte die Königin, »kommen, Märchen, daß sich die Leute da unten so geändert haben?«
»Sieh, die Menschen haben kluge Wächter aufgestellt, die alles, was aus deinem Reich kommt, o Königin Phantasie! mit scharfem Blicke mustern und prüfen. Wenn nun einer kommt, der nicht nach ihrem Sinne ist, so erheben sie ein großes Geschrei, schlagen ihn tot, oder verleumden ihn doch so sehr bei den Menschen, die ihnen aufs Wort glauben, daß man gar keine Liebe, kein Fünkchen Zutrauen mehr findet. Ach! wie gut haben es meine Brüder, die Träume, fröhlich und leicht hüpfen sie auf die Erde hinab, fragen nichts nach jenen klugen Männern, besuchen die schlummernden Menschen, und weben und malen ihnen, was das Herz beglückt und das Auge erfreut!«
»Deine Brüder sind Leichtfüße«, sagte die Königin, »und du, mein Liebling, hast keine Ursache sie zu beneiden. Jene Grenzwächter kenne ich übrigens wohl; die Menschen haben so unrecht nicht, sie aufzustellen, es kam so mancher windige Geselle, und tat, als ob er geraden Wegs aus meinem Reiche käme, und doch hatte er höchstens von einem Berge zu uns herübergeschaut.« –
»Aber warum lassen sie dies mich, deine eigene Tochter, entgelten«, weinte Märchen, »ach! wenn du wüßtest, wie sie es mir gemacht haben; sie schalten mich eine alte Jungfer und drohten, mich das nächste Mal gar nicht mehr hereinzulassen.« –
»Wie, meine Tochter nicht mehr einzulassen?« rief die Königin, und Zorn erhöhte die Röte ihrer Wangen; »aber ich sehe schon, woher dies kommt; die böse Muhme hat uns verleumdet!«
»Die Mode? nicht möglich!« rief Märchen, »sie tat ja sonst immer so freundlich.«
»Oh! ich kenne sie, die Falsche«, antwortete die Königin, »aber versuche es, ihr zum Trotze, wieder meine Tochter, wer Gutes tun will, darf nicht rasten.«
»Ach Mutter! wenn sie mich dann ganz zurückweisen, oder wenn sie mich verleumden, daß mich die Menschen nicht ansehen oder einsam und verachtet in der Ecke stehen lassen?«
»Wenn die Alten, von der Mode betört, dich geringschätzen, so wende dich an die Kleinen, wahrlich sie sind meine Lieblinge, ihnen sende ich meine lieblichsten Bilder, durch deine Brüder, die Träume, ja ich bin schon oft selbst zu ihnen hinabgeschwebt, habe sie geherzt und geküßt und schöne Spiele mit ihnen gespielt; sie kennen mich auch wohl, sie wissen zwar meinen Namen nicht, aber ich habe schon oft bemerkt, wie sie nachts zu meinen Sternen herauflächeln, und morgens, wenn meine glänzenden Lämmer am Himmel ziehen, vor Freuden die Hände zusammenschlagen.
Auch wenn sie größer werden, lieben sie mich noch, ich helfe dann den lieblichen Mädchen bunte Kränze flechten, und die wilden Knaben werden stiller, wenn ich auf hoher Felsenspitze mich zu ihnen setze, aus der Nebelwelt der fernen blauen Berge, hohe Burgen und glänzende Paläste auftauchen lasse, und aus den rötlichen Wolken des Abends kühne Reiterscharen und wunderliche Wallfahrtszüge bilde.«
»O die guten Kinder!« rief Märchen bewegt aus, »ja es sei! mit ihnen will ich es noch einmal versuchen.«
»Ja, du gute Tochter«, sprach die Königin, »gehe zu ihnen; aber ich will dich auch ein wenig ordentlich ankleiden, daß du den Kleinen gefällst, und die Großen dich nicht zurückstoßen, siehe das Gewand eines Almanach will ich dir geben.«
»Eines Almanach, Mutter? ach! – ich schäme mich, so vor den Leuten zu prangen.«
Die Königin winkte und die Dienerinnen brachten das zierliche Gewand eines Almanach. Es war von glänzenden Farben, und schöne Figuren eingewoben.
Die Zofen flochten dem schönen Märchen das lange Haar; sie banden ihr goldene Sandalen unter die Füße und hingen ihr dann das Gewand um.
Das bescheidene Märchen wagte nicht aufzublicken, die Mutter aber betrachtete sie mit Wohlgefallen und schloß sie in ihre Arme: »Gehe hin«, sprach sie zu der Kleinen; »mein Segen sei mit dir. Und wenn sie dich verachten und höhnen, so kehre zurück zu mir, vielleicht daß spätere Geschlechter, getreuer der Natur, ihr Herz dir wieder zuwenden.«
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