Wilhelm Hauff - Die Bücher und der Leserwelt

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Wilhelm Hauff

DIE BÜCHER

UND

DIE LESERWELT

Eine Skizze (1826)

1. Die Leihbibliothek

Als ich noch in… n lebte, gehörte es zu meinen Vormittagsvergnügen, in eine Leihbibliothek zu gehen; nicht um Bücher auszuwählen - denn die Sammlung bestand aus vier- bis fünftausend Bänden, die ich größtenteils zwei Jahre zuvor in einer langen Krankheit durchblättert hatte -, sondern um zu sehen, wie die Bücher ausgewählt werden. Ich trug mich damals mit dem sonderbaren Gedanken, ein Buch zu schreiben. Ich hatte noch keinen bestimmten Gegenstand oder Zweck und war noch sehr unentschieden, nach welchem großen Meister ich mein erstes Stück verfertigen sollte. An den inneren Wert des künftigen Buches dachte ich zwar mit unbehaglichem Gefühl; denn unter allen meinen Gedanken war ich bis jetzt auf keinen gestoßen, der sich, selbst mit Schwaba-cher Lettern gedruckt, schön ausgenommen hätte. Doch schien mir das Größte und Notwendigste für einen, der ein Buch machen will, daß er die Menschen studiere, nicht um Menschenkenntnis zu sammeln - die lernt man jetzt in Büchern -, sondern um den Leuten abzusehen, was etwa am meisten Gefallen finde, oft und gern gelesen werde. Vox populi, vox Dei, dachte ich, gilt auch hier. So saß ich denn manchen Vormittag in der Bibliothek, um die Leser und ihre Neigungen zu studieren.

Der Bibliothekar war ein kleiner, alter Mann, der in den zehn Jahren, die ich in seiner Nähe lebte, beständig einen apfelgrünen Frack, eine gelbe Weste und blaue Beinkleider trug. Ich suchte ihm zu beweisen, daß er seinen Anzug nicht greller und abgeschmackter hätte wählen können. Er brach aber, nachdem ich einiges Schlagende aus der Farbenlehre vorgebracht hatte, in Tränen aus und versicherte mir, er trage sich so und werde sich bis an sein Lebensende so tragen. Denn von diesen Farben sei sein Hochzeitskleid gewesen, das er sich sechs Wochen vor der Hochzeit und leider zu früh habe anfertigen lassen; denn die Braut sei schnell am Nervenfieber gestorben. Der Bibliothekar hatte in seinem Fach eine vieljährige Erfahrung, und interessant war, was er bisweilen darüber äußerte. „Morgens werden am meisten Bücher ausgetauscht,“ sagte er z. B., „das ist die Zeit der zweiten und dritten Teile. Es kommt nicht daher, wie ich anfänglich glaubte, daß zu dieser Zeit die Bedienten und Kammermädchen ihre Ausgänge in die Stadt machen - denn dann müßte sich dieses Verhältnis auch auf erste Teile erstrecken -, nein, es kommt vom Nachtlesen her.“

„Vom Nachtlesen?“ fragte ich verwundert.

„Davon, meine ich, daß die Leute interessante Bücher bei Nacht lesen. Ein großer Teil der Menschen, die jungen und ganz gesunden ausgenommen, kann nicht in derselben Minute einschlafen, wo sie zu Bette gehen. Zum Opium mag man nicht greifen, weil man damit, einmal angefangen, fortfahren muß. Da gibt es nun kein besseres Mittel als zu lesen.“

„Gut, ich verstehe“, erwiderte ich. „Aber Sie sprachen von interessanten Büchern. Sind diese denn zum Einschläfern eingerichtet?“

„Nicht alle und nicht für alle. Natürlich muß man unterscheiden, für wen dieses oder jenes interessant sein kann. Sie kennen die Gräfin Winklitz? Nun, die kann am längsten nicht einschlafen. Mich dauert nur das Kammermädchen, das ihr jede Nacht oft bis zwei Uhr vorlesen muß. Nun gebe ich einmal aus Irrtum dem Mädchen Görres’ ‚Deutschland und die Revolution‘ mit - Sie wissen, für den Kenner gibt es nichts Interessanteres -, acht Nächte haben sie daran gelesen, und doch hat es nur 190 Seiten, und jedesmal ist die Gräfin um elf Uhr eingeschlafen. Das Mädchen wußte mir Dank für das ‚schläfrige Buch‘. Kommt, um Ihnen nur noch ein Beispiel zu geben, kommt zu meinem großen Erstaunen der alte Professor Wanzer, der über Mathematik liest, in meinen Laden. Er habe seit zwanzig Jahren nichts Belletristisches mehr gelesen als zuweilen die Traueranzeigen im Merkur, und nun wünsche er doch wieder eine Übersicht zu bekommen über das, was inzwischen Gutes geschrieben worden. Ich fragte ihn, ob er von Walter Scott etwas gelesen. Er erinnert sich, von dem berühmten Mann gehört zu haben, und nimmt Ivanhoe mit, Ivanhoe, diese herrliche Geschichte! Den andern Tag kommt er ganz verdrießlich, wirft mir ein paar Groschen und den Scott auf den Tisch und sagt, die Rittergeschichten, die er in seiner Jugend gelesen, seien bei weitem schöner gewesen; er sei schon über dem ersten Teil eingeschlafen. Bitte Sie um Himmels willen, über Ivanhoe eingeschlafen!“

„Aber wie hängt dies mit Ihren Beobachtungen über die zweiten und dritten Teile zusammen?“ unterbrach ich ihn.

„Nun, wir sprachen gerade von interessanten Büchern, und da kam ich auf die Gräfin und den Professor. Kommt aber ein interessantes Buch an den rechten Mann, so geht es, wie wenn ein Pferd flüchtig wird. Abends war man im Theater oder in Gesellschaft, man hat nachher gut zu Nacht gespeist und rüstet sich nun, zu Bette zu gehen. Die Lampe auf dem Tische am Bette ist angezündet, das Mädchen oder der Bediente hat einen ersten Teil zurechtgelegt. Alles ist in Ordnung, nur der Schlaf will noch nicht kommen. Man rückt die Lampe näher, man nimmt das Buch in die Rechte, stützt den linken Ellbogen in die Kissen und schlägt das Titelblatt auf. Sagt der Titel dem Leser zu, hat er sich über das erste oder, wie ich’s nenne, Geburtsschmerzenkapitel hinübergewunden, so geht es rasch vorwärts. Die Augen jagen über die Zeilen hin, die Blätter fliegen, und solch ein rechter Nachtleser reitet einen Teil ohne Mühe in zwei Stunden hinaus. Gewöhnlich ist der Schluß der ersten Teile eingerichtet wie die Schlußszenen der ersten Akte in einem Drama. Der Zuschauer muß in peinlicher Spannung auf den nächsten Akt lauern. Unzufrieden, daß man nicht auch den zweiten Teil gleich zur Hand hat und dennoch angenehm unterhalten, schläft man ein. Den nächsten Morgen aber fällt der erste Blick auf das gelesene Buch. Man ist begierig, wie es dem Helden, der am Schluß des ersten Teils entweder gerade ertrunken ist oder ein sonderbares Pochen an der Türe hörte und soeben „her-ein!“ rief, weiter ergehen werde, und wenn ich um acht Uhr meinen Laden öffne, stehen die Johanns, Friedrichs, Katharinen, Babetten schon in Scharen vor der Türe, weil gnädiges Fräulein, ehe sie eine englische Stunde hat, der Herr Rittmeister, ehe die Schwadron ausreitet, die Frau Geheimrätin, ehe sie Toilette macht, noch einige Kapitel im folgenden Teil des höchst interessanten Buches lesen möchten.“

2. Geschmack des Publikums

Oh, daß ich auch einer der Glücklichen wäre,“ dachte ich, als jetzt die Leihbibliothek sich öffnete und ein Gemisch von bordierten Bedientenhüten und hübschen Mädchengesichtern sich zeigte, „einer jener Glücklichen, deren zweiter Teil mit so großer Sehnsucht erwartet wird!“ Nicht ohne Neid blickte ich auf die Bände, die der kleine Bibliothekar mit der wichtigen Miene eines Bäckers zur Zeit einer Hungersnot verteilte. - Er hatte die dringendsten Kunden befriedigt, das Geld oder die Leseschulden eingeschrieben, und ich konnte jetzt eine wichtige Frage an ihn richten, die mir schon lange auf den Lippen schwebte, die Frage über den Geschmack des Publikums.

„Er ist so verschieden“, antwortete er, „und ist oft so sonderbar wie der Geschmack an Speisen. Der eine will süße, der andere gesalzene, der eine Seefische, Austern und italienische Früchte, der andere nahrhafte Hausmannskost; in einem Punkte stimmen sie aber alle überein: sie wollen gut speisen.

„Das heißt?“

„Sie wollen unterhalten sein; natürlich jeder auf seine Weise.“

„Aber wer ist der Koch,“ rief ich aus, „der für diese verschiedenen und verwöhnten Gaumen das Schmackhafte zubereitet? Wie kann man es allen oder nur vielen recht machen? Denn darin liegt doch der Ruhm des Autors.“

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