Wilhelm Hauff - Feie Stunden am Fenster

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Wilhelm Hauff

FREIE STUNDEN AM FENSTER

(1826)

1.

Mein Onkel war gestorben. Er hinterließ ein hübsches Vermögen, das meinen heimlichen Kummer wieder stillen konnte; aber er hatte es einer Witwe vermacht, die er noch in seinen alten Tagen gern gesehen. Ich erklärte, der Wille des Seligen sei mir zu heilig, als daß ich ihn umstoßen möchte, d. h., die Advokaten hatten mir gesagt, daß ich den Prozeß in allen Instanzen verlieren würde; aber die ganze Stadt pries meinen Edelmut. Sie hatte gut loben, die ganze Stadt, loben kostet nichts. Aber um so viele Hoffnungen betrogen, um das ganze Vermögen des Onkels ärmer zu sein, das war hart! Ich habe in meiner Jugend im Kinderfreund gern ein Stück gelesen, es hieß „Edelmut in Niedrigkeit“; nachher hat mich oft ein anderes, „Armut und Edelsinn“, bis zu Tränen gerührt. - War es vielleicht die Ahnung, daß ich einst diese Rolle selbst spielen müsse, was mir Tränen auspreßte? Meinen einzigen Trost, meine süße Hoffnung, die Tante in Leipzig, rührte vor vier Wochen der Schlag. Ich, ihr nächster Leibeserbe, machte bei dieser Nachricht bedeutende Einkäufe in schwarzem Tuch, zog einen ganz neuen Menschen an, und meine Bekannten wußten sich diesen Aufwand nicht zu erklären. Die Tante hat ihre Taler einem ganz fremden Menschen vermacht. Ich dachte anfänglich aus Haß gegen mich, weil ich einmal geäußert, die Zeitung für gebildete und noble Menschen sei schlechtes Zeug; sie aber hatte alles trefflich und genial gefunden. Aber nein, es verhielt sich anders. Die Tante, ich erfuhr es erst vor einigen Tagen, die selige Tante war Schriftstellerin gewesen. Unter dem Namen Idoina Strahlen hatte sie in die Zeitung für noble usw. Erzählungen, Aphorismen aus ihrem Leben, Romanzen und dergleichen geliefert. Ja, sie hatte sogar Romane für Leihbibliotheken geschrieben. Wer kennt nicht „Lisbethas letzte Seufzer“ in Duodez, „Die Mohrenschlacht oder die grausamen Herzen, eine spanische Geschichte“; wem ist nicht „Meine erste Liebe oder der blutige Säbel“ bekannt? Ich hatte sie oft auf die Seite geworfen, wenn sie mir nebst anderer dergleichen Ware in die Hände fielen. Konnte ich denken, daß sie mich um mein Erbe bringen würden? Idoina las alle ihre Produkte einem Magister vor, der sie quoad stylum korrigierte, reinlich abschrieb, an die Zeitung für noble usw. oder an die Verleger verschickte und, wenn sie erschienen waren, in sechs oder acht Journalen günstig rezensierte. Es konnte nicht fehlen - die selige Tante hinterließ ihm ihren Mammon.

Das neue Kleid war gekauft und konnte nicht mehr ungekauft gemacht werden! Ich verkaufte mein Piano, um jenes zu bezahlen. Es war gut, daß nicht noch etwas Schwereres zu vergüten war. Als mir nämlich die Kunde von dem Tod der seligen Tante kam, als ich mich im neuen Kleide vor dem Spiegel musterte, fand ich, daß ich gut genug zu einem Ehemann aussehe. Wenn ich nicht irrte, so mochte dies auch des Oberhofmeisters Trinette finden. Ich hatte Aussichten, gemächlich mit einer Frau leben zu können, ich las aufrichtige Liebe in ihren schönen, braunen Augen, ich wollte endlich einen Schritt vorwärts tun; da kam die Leipziger Post, der Magister hatte das Erbe, und ich - blieb stehen, ich ging rückwärts. Jetzt erst war ich arm; denn ich hatte keine Hoffnung mehr. Ich dachte ernstlich über meine Stellung in der Welt nach und fand, daß ein armer Teufel eine um so traurigere Rolle spiele, je weiter er oben steht. Moreaus Rückzug wird für das Glänzendste gehalten, was dieser große General getan hat. An mir war es jetzt, eine ähnliche Operation zu machen; ich mußte mich ohne Schande aus den Salons zurückziehen, mein Rückzug mußte einem Siege gleichen, wenn ich mir das Erröten ersparen wollte. Man kann sich denken, daß ich am schwersten daran kam, jene treffliche Stellung zu verlassen, die ich gegen die Bastion Trinette eingenommen hatte. Meine Vorposten waren schon so weit vorgeschoben, daß sie täglich mit dem Feinde plänkelten, ich war daran, die Laufgräben zu eröffnen, es war mathematisch gewiß, daß ich siegen mußte. Wer hat eine solche Stellung nicht mit einer Träne im Auge aufgegeben?

Aber mein Rückzug war meisterhaft. Es fand sich eine Gelegenheit, gegen Trinette den Eifersüchtigen zu spielen;

ich erschien einige Abende bei den fröhlichsten Soupers, bei den glänzendsten Bällen düster und in mich gekehrt; es fiel auf, und jetzt hatte ich gewonnen. „Er ist melancholisch“, sagte die ganze Stadt. Ich war melancholisch, denn ich hatte ja nichts mehr, um die Freude zu bezahlen; die Melancholie kann man aber umsonst haben. Ich gab meine vier Zimmer in der Hauptstraße auf und bezog ein kleines Stübchen in einem entlegenen Teile der Stadt.

„Nein, wie er melancholisch ist!“ sagten die Leute. Ich speiste sonst im ersten Gasthof, jetzt ließ ich mir die Speisen aus einer Garküche bringen. „Er ist ein Narr“, war das Urteil der Welt, und jeder, der mich sah, fragte mich teilnehmend, wie es mir gehe. Die Ehre war gerettet. Ich wollte lieber für einen Narren, für melancholisch - als für einen armen Teufel gelten.

Es wohnt sich übrigens ganz gut in dem kleinen Stübchen. Die einzigen Möbel, die mir gehören, sind: ein großer Fauteuil - ich konnte es nicht übers Herz bringen, ihn zu verkaufen, denn meine gute Mutter war darin verschieden - und ein Schreibtisch, der beinahe ein Drittel des Stübchens einnahm - mein Vater hatte daran gearbeitet. Anfangs vermißte ich mein Piano sehr ungern. Es gab in meinem Tag so manche freie Stunden, die ich mir mit Musik verkürzt hatte. Aber bald entdeckte ich ein Möbel, das mir noch größern Genuß verschaffte als das Klavier; es war mein Fenster. Mein Stübchen lag im zweiten Stock; ich konnte, wenn ich mein Opernglas zu Hilfe nahm, ganz bequem in die Etagen meiner Nachbarin schauen. Ich lernte beobachten, und stundenlang saß ich an meinem Fenster. Ich komme mir oft vor wie der Ritter Toggenburg. Es ist zwar kein Nonnenkloster, dem gegenüber ich mein Hauswesen aufgeschlagen habe; aber doch schaue ich vielleicht nicht mit geringerer Andacht nach dem schönen, zweistöckigen Haus und lausche, bis ein Fenster klingt und ich auch Worte vernehme. Auch bleibe ich so nach und nach ein Junggeselle wie der melancholische Ritter, doch soll mich Gott bewahren, daß ich darüber das bißchen Geist aufgebe wie der Toggenburger, und es wäre mir höchst fatal, wenn man von mir sagte:

Und so saß er, eine Leiche,

eines Morgens da,

nach den Fenstern noch das bleiche,

stille Antlitz sah.

2. Die Liebe parterre

Christel!“ sagte ich am Morgen, nachdem ich mich eingerichtet hatte, zu der alten Aufwärterin, die mir den Kaffee brachte, „Christel, wer wohnt da gegenüber in dem breiten Hause?“

„Parterre wohnt der Schuhmacher Rupfer, mitten die gnädige Frau und oben der Doktor und der Leutnant.“

„Nicht so schnell, Christel, nicht so schnell, da weiß ich so viel als vorher; wem gehört das Haus?“

„Dem Schuhmacher, daß mir’s Gott verzeih!“ antwortete sie. „Ist es nicht eine Sünde, daß ein Schuhmacher einen solchen Palast hat? Das kommt aber alles von der Russenzeit. Da hat ihm sein Vetter, der Kriegsratskanzelist, eine Schuhlieferung verschafft, und weil die Russen bekanntlich große Füße haben, so - “ - „So war auch der Abfall groß, natürlich; aber wie sind die Leute? Der Meister scheint früh auf zu sein, ich sah schon um fünf Uhr Licht; auch einige Mädchen glaubte ich zu bemerken.“

„Der Alte um fünf Uhr auf?“ rief Christel mit wegwerfender Miene. „Ja, dem tut’s not, der lebt wie ein großer Herr seit der Russenzeit und steht vor acht Uhr nicht auf. Sie werden schon merken, wann er aufsteht. Geht ein rechtes Geschrei los in der Werkstatt, hören Sie einen Mann schimpfen und die Mädchen heulen, so ist der Alte aufgestanden. Das ist alle Tage, die Gott gibt, sein Morgenlied.“

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