Sie war tatsächlich da! Sie stand mit Schock im Türstock zu jenem Casino, das früher einmal zu Wild Bills Stamm- und Todeskneipe, dem Bell Union Saloon, gehört hatte. Sie war eine sehr hellhäutige und nicht gerade attraktive Squaw, der traditionellen Kleidung nach wohl Schoschone, und schoss dem rotblonden Kerl da an der Theke in den Rücken. Sie tat dies mit einer tödlichen Waffe – mit dem Wort.
»Gerd Grau?«, rief sie. Für die einheimischen Anwesenden klang das aus ihrem Mund wie »gerret crow«, also so was wie »Mansardenkrähe«. Der Getroffene bäumte sich noch einmal auf und erstarrte. Er drehte sich nicht um.
»Garret crow!«, sagte die unscheinbare Schoschone erneut und wiegte wie verständnislos verneinend ihren Kopf. Jeder der nun Anwesenden saß atemlos und starr zu ihr oder in sein Glas blickend da, als habe er das größte Reiterstandbild der Welt zum ersten Mal vor Augen, nämlich das von Red Cloud im nahen Tal der steinernen amerikanischen Präsidenten. Sie war eine von den Schoschonen wie der berühmte Häuptling Red Cloud, nur nicht so attraktiv.
Der erstarrte rotblonde Kerl drückte jetzt sein Whiskey-Glas an sein getroffenes Herz, in jene Gegend jedenfalls, wo bei ihm eine rosa Seidennelke steckte an seiner seltsam büffelgrasfarbenen und gestrichelten Uniformjacke. Jedermann im Lokal wusste, dass er der One-Stroke-no-Stroke-Man war, bloß seine Squaw nicht.
Aber sie schaffte es, urplötzlich bei ihm zu sein und gleich völlig verborgen auf seinem Schoß zu sitzen. Die beiden gaben keinen Piep mehr von sich und drückten einander nur. Wie sollte ich diesen Klumpen aus Wiedersehensfreude nun mit einer Sendung stören, die ich von Potty zu übergeben hatte? Ich schob das kleine Päckchen so dicht an diesen Glücksklumpen heran, dass er wohl nicht stibitzt werden konnte. Ich sah dem Familienvater drei Sitze weiter noch tief und lange in die Augen. Der Mann erwiderte meinen Blick und ist dabei wohl Sieger geblieben.
Das war mein traumhaftester Fall. Er löste sich eigentlich von ganz allein. Aber ich war wenigstens dabei gewesen.
Foggy rief in meinem Motel in Deadwood an und spielte den Ahnungslosen: »Kennst du einen Erbsensuppenhändler namens Potty?«
»War das nicht der Kumpel vom One-Stroke-no-Stroke-Man?«
»Kennst du auch den Unternehmer Stuhlmeier aus Palm Springs in Kalifornien?«
»Nicht persönlich.«
»Pass auf. In diesem Military Surplus-Laden in Iowa City gibt es auf Lager jetzt schon Tausende NVA-Felddienstjacken mit dem Spitznamen ›One-Stroke-no-Stroke‹. Willst du noch mehr wissen?«
»Danke, Foggy Gellhorn, ich weiß schon alles. Du bist einfach große Klasse.«
Ich war damals natürlich noch auf dem Bergfriedhof in Deadwood gewesen und stand an den nicht allzu sehr benachbarten Gräbern von Calamity Jane und Wild Bill Hickock. Ich hab den beiden zwei weiße Kunstblumen aufs Grab gelegt. Ich habe die Wegwerfer von noch viel mehr Kunstblumen vorher gesehen. Es waren zwei. Nämlich ein Herz und eine Seele. Sie hatten insgesamt 400 Kunstblumen von Hohnecker’s Fall Silk Flowers and Arrangements in Dubuque am Mississippi in einen Supermarktcontainer am Rand der Black Hills geworfen. Jetzt lagen dort allerdings nur noch 398 Stück.
Es war Mitte Oktober 1991. Der Winter fuhr herein auf seiner freien Bahn aus dem hohen Norden. Schon Alberta Clipper kam zu früh nach Iowa herunter, und er wurde fast noch überholt vom Canadian Express. Foggy und ich saßen im Widows Watch auf seinem Haus über Dubuque und konnten sehen, wie alle Schiffe vom Hafen im Kreis herumfuhren, um ihn eisfrei zu halten, selbst die »Casino Belle« und der kleine Raddampfer »Bettendorf«, wo sie deinen Whisky Soda mit zwei kleinen Tankpistolen in deine Gläser aus Plaste zischen. Dann sahen wir selbst noch im Dunkeln, wie der Mississippi allmählich eine hellere, ja grelle Farbe annahm, sich aufhäufte und da und dort mit spitzen Fingern wie die Kirchen Oklahomas auf den Himmel einstach. Der Mississippi begann nun erst recht zu donnern und zu krachen wie eine Schlacht, die sich über Hunderte Meilen nach Süden zu erstrecken begann. Es war die Winterschlacht des mächtigen Flusses, und ich hatte bereits gewonnen und konnte die fünftausend D-Mark von Kukkie behalten. Foggy wollte davon partout nichts.
Die dreitausend Dollar, die mir aber Gerd Grau noch als Scheck schicken wollte, ließ ich ihn gleich an Foggy Gellhorn überweisen. Dann hab ich mich vier Jahre lang mehr schlecht als recht in Amerika oder in Berlin und sonstwo durchgeschlagen, aber ich hatte in dieser Zeit bereits eine mit Ach und Krach erworbene Detektivlizenz.
6
Kamtschatka, 180 km südlich von Charlottenburg
Go West ist ein gemütlicher Ausflug gegen Stellers Fahrten. Aber durch ihn bin ich wohl endgültig in meinen Beruf geraten, so hatte ich Kandida chida erzählt. Ich hatte mich also für den interessanten Job beworben.
»Die Große Nordische Expedition« sollte in den Franckeschen Stiftungen in Halle an der Saale ab dem Mai des Jahres 1995 eine unglaublich umfangreiche Ausstellung heißen. Gemeint war die Expedition unter Vitus Bering, dem »Kolumbus des Zaren«, über Monate und sogar viele Jahre hinweg durch das so elend weite Russland von Peter dem Großen, zu dem damals ja auch noch Alaska gehörte.
Man hatte Alaska schließlich wie Kolumbus die Antillen tatsächlich erreicht, es hatte eben nur zehnmal länger gedauert. Noch zu Schiff auf der Meerenge, die später Beringstraße hieß, hatte Steller als Erster einen amerikanischen Schwarzkopfhäher an Deck begrüßt. Georg Wilhelm Steller war der wissenschaftliche Leiter dieser gigantischen Expedition von 1733 bis 1745 gewesen und hatte als erster Europäer von Osten her amerikanischen Boden betreten, wenn auch nur für zehn Stunden. Er war es auch, der noch die letzten gigantischen Seekühe gesehen und beschrieben hat, die schließlich nach ihm benannt wurden. Diese Ausstellung sollte deshalb in Halle sein, weil Georg Wilhelm Steller dort einmal eine ganze Weile als Lehrer am Waisenhaus der pietistischen, aber zugleich auch global expandierenden und expeditierenden Franckeschen Stiftungen tätig gewesen war.
Eine der Leistungen Stellers bestand auch darin, so las ich es in dem ungewöhnlich ausführlichen Antwortschreiben der Franckeschen Stiftungen, dem kleinen Volk der Itelmenen auf Kamtschatka die Sprache, Gebräuche und Mythen abgelauscht und sie schriftlich fixiert zu haben. Vor allem Georg Wilhelm Steller verdanken die Itelmenen, so würden sie es auch selber sagen, dass sie ihre Sprache über die russische und sowjetische Zeit hinweg bewahren konnten. Deshalb sollten die Itelmenen nun mit der kleinen Verspätung von 250 Jahren im Jahr 1995 auf Gegenbesuch nach Halle in die Franckeschen Stiftungen kommen, natürlich nicht alle etwa tausendfünfhundert Leute des Stammes, sondern etwa zwanzig von ihnen in der Form eines Tanz- und Gesangsensembles namens Elvel samt Kind und Kegel.
Ausgerechnet ich bekam dann den laut der Annoncierung in der zeitsicher recht guten Job als eine Art Koordinator während der neunmonatigen Ausstellung in Halle. Dr. Dettlev Müller-Semrau, der Leiter der Franckeschen Stiftungen, empfing mich überfreundlich. Ich dachte gleich, ich hätte für neun Monate ausgesorgt, zumal er ein mehr als gutes Monatsgehalt nannte. Aber es war nur ein Koordinator-Job für höchstens einen Monat. Im Grunde sollte ich nur die für mindestens zwei Wochen anreisenden 20 Itelmenen aus Kamtschatka »betreuen«.
Müller-Semrau druckste ein bisschen herum. Dann ging unser Gespräch ungefähr so weiter, Müller-Semrau: »Im Grunde wissen wir nicht, wer da zu uns kommt, aber auch die Itelmenen werden vermutlich längst wie wir leben, so kurz vorm Ende des 20. Jahrhunderts.«
»Die Lappen des Ostens«, nickte ich.
»Nein, die Sami des Ostens!«, rief Müller-Semrau. »Sehen Sie? Da haben wir schon das Problem! Lappe ist eher eine Beleidigung. Die Lappen dominieren den Rat der Urvölker, seien Sie froh, dass jetzt keiner von denen hier im Raum ist! Zu Ihrem Job wird gehören, dass Sie situationsgerecht herausfinden, wie die Itelmenen ticken und entsprechend reagieren.«
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