„Wer hat ...“
Na, wer wohl? Natürlich die beiden Jungen, Volker und Thomas. Kornelia hatte die Bekanntschaft zwischen Hündin und Jungen gleich beim Treffen ordnungsgemäß angebahnt, sie an die zwei herangeführt, sie beschnuppern lassen und sie gelobt, als sie von selbst die Pfote hob, um sie ihnen zu geben. Der Erfolg war, daß sie nun meinten, sie würde sich alles von ihnen gefallen lassen. Natürlich wären sie, seit Jahren auf einem Gutshof lebend, nie auf den Gedanken gekommen, ein Tier zu necken oder gar zu quälen. Thomas wollte sie nur „mal schön anziehen“, und so hatten sie einiges von den Garderobenhaken heruntergeholt und sie damit geschmückt. Erst ließ sie es sich gutmütig gefallen, aber dann wurde es ihr doch zu arg ...
„So was! Zur Strafe geht ihr aber jetzt sofort ...“
„... ins Bett“, hatte Vater Conrad sagen wollen, da aber hatte Volker, der sehr wach und ein guter Beobachter war, durchs Fenster die Scheinwerfer erspäht, die in den Hof einbogen.
„Onkel Bertram kommt bestimmt. Das ist er!“ schrie er und sauste ab, dem Kommenden entgegen. Thomas folgte, die Tür im Rennen mit einem ungeheuren Krach hinter sich zuschmetternd. Dieser Krach fuhr Pölze durch Mark und Bein. Kornelia, die die Freundin zufällig in diesem Moment ansah, faßte nach ihrer Hand.
„Was hast du?“
„Ach, ich weiß nicht –“ Sie fühlte wieder diesen wilden, schneidenden Schmerz. Und nun jagten sich die Ereignisse derart, daß keiner richtig zur Besinnung kam, am wenigsten Pölze. Sie konnte erst wieder denken, als sie in Tante Ulles Bett, in das man sie schleunigst geschafft hatte, ihren neugeborenen Sohn in den Arm gelegt bekam. Himmel, war das ein ereignisreicher Tag. Sechs Wochen zu früh – und wieder ein Sohn. Diesmal hätte es ja eine Tochter sein sollen. Und auf dem Rosenhof geboren, kein Mensch bekam sonst noch Kinder zu Hause, und einen Namen hatte man auch nicht zur Hand. Dies alles wirbelte durch ihren Kopf, während sie das winzige Geschöpf betrachtete, voller Rührung und Dankbarkeit, dankbar auch dafür, daß es so schnell gegangen war. Nach Bertis Start ins Leben, der eine ganze Weile gedauert hatte, war ihr vor diesen Stunden ein wenig bange gewesen, je näher sie heranrückten, obwohl sie nie etwas gesagt hatte. Nun waren sie in eine knappe Dreiviertelstunde zusammengedrängt worden. Wenn man da auch nicht zu Verstand kam, jetzt waren sie vorbei. Sie sagte so etwas zu Bertram, der sich über sie beugte.
„Ja, mein Herz, Gott sei Dank, wunderschön. Großartig hast du das gemacht, und ich finde den zweiten Sohn mindestens so schön wie eine erste Tochter. Und ein Name wird sich schon finden.“
„Ich weiß: Kornelius!“ sagte Pölze in einer plötzlichen Erleuchtung. „Kornelius, nach Kornelia. Dort guckt sie nämlich durch den Türspalt. Herein mit dir, Kornelia Kayser. Hiermit übertrage ich dir feierlich das Amt einer Patin, denn nach dir soll unser Sohn heißen. Da du den ganzen Tag heute, an seinem Geburtstag, keinen anderen Gedanken hattest als an ihn, oder mich, seine Mutter – rührend, wie du bist ...“
Kornelia wurde wieder einmal feuerrot. Sie lachte und kam heran, betrachtete das Miniaturmenschlein mit schiefgehaltenem Kopf, so wie sie etwa ein neugeborenes Fohlen taxierte – „schräge Schulter, guter Hals, hm, kann was werden“ –, und setzte sich dann auf den Stuhl neben Tante Ulles Bett.
„Wenn ich wüßte, wie der Froschkönig heißt“, sagte sie versonnen, „ich meine, mit Vornamen ...“
„Dann, meinst du, sollten wir ihn nach ihm nennen?“ fragte Pölze hinterlistig und so ernsthaft, wie es nur ging. Kornelia merkte nichts.
„Ja, das meine ich“, sagte sie und nickte nachdrücklich, „ist doch weiter nicht verwunderlich, oder? Unsere Begegnung hatte etwas Schicksalhaftes, finde ich. Freilich, wenn er Nebukadnezar oder Fridolin heißt, aber das glaube ich nicht. Nein, das glaube ich wirklich nicht. Du etwa?“ fragte sie, als Pölze nicht antwortete.
„Nein, ich auch nicht“, sagte Pölze. Und dann platzte sie heraus, und Tante Ulle, die gerade zur Tür hereinsah, wurde ganz ärgerlich.
„Kurz nach der Entbindung so zu lachen; also zu unserer Zeit ...“
„Da haben sicher auch welche gelacht, wenn ihre Söhne Nebukadnezar oder Fridolin heißen sollten“, brachte Pölze mühsam hervor. Tante Ulle aber schüttelte den Kopf.
„Dann schon Fridolin“, entschied sie, „nein, Neb ... – ach, ich weiß einfach nicht, wie der hieß, so jedenfalls nicht. Das klingt ja geradezu kriminell.“
„Es war ein König, Tante Ulle, ein babylonischer“, röchelte Pölze, „aber wir wollten ja gar nicht. Auch nicht Fridolin ...“ Sie konnte nicht weitersprechen. Ganz schnell waren ihre Augen, die noch in Lachtränen schwammen, zugefallen. Das Kinn an das Köpfchen ihres neugeborenen Kindes gelehnt, war sie eingeschlafen, so plötzlich und übergangslos, daß sogar Tante Ulle leise wurde.
„Komm raus, Kornelia, sie braucht Ruhe!“ flüsterte sie und wollte das Mädchen mit sich ziehen. Kornelia aber machte ihre flehenden Augen.
„Frau Elgers, bitte, bitte, darf ich noch bleiben?“ bettelte Kornelia. „Bei Stuten, die gefohlt haben, bleib’ ich auch immer noch, bis es hell ist. Ich sitze auch ganz still und störe bestimmt nicht! Aber ich möchte so gern. Und es ist sicher gut, es ist jemand bei ihr.“ Sie dachte an Pölzes plötzliche Fieberattacke in der vorigen Nacht.
Sie sagte nichts davon, aber Tante Ulle schien etwas davon zu spüren, denn sie wurde mit einem Male nachgiebig, was bei ihr bemerkenswert selten war.
„Meinst du? Die Hebamme“ – sie hatten noch eine geholt, die allerdings zu spät gekommen war – „sagt doch, es wäre alles tadellos in Ordnung?“
„Ist es sicher auch. Trotzdem.“
„Dann krieche in Onkels Bett. Warte ...“ Tante Ulle öffnete leise den alten Eichenschrank und hantierte mit Bettlaken und Bezügen.„Vielleicht hast du recht, wenn ich auch finde, es sollte ein Erwachsener dasein.“
„Ich bin siebzehn, Frau Elgers!“ betonte Kornelia, und es klang abgrundtief empört. „Und der Junge heißt nach mir. Das gibt mir doch ein gewisses Anrecht ... und ich verstehe mich mit Pölze auch wirklich gut!“
Es wurde ihr erlaubt. Kornelia besaß nun einmal das Talent, daß man ihr nur schwer etwas abschlagen konnte. Tief befriedigt kuschelte sie sich in die frischen Betten, die Nase zu Pölze gewandt, nachdem sie das Nachttischlämpchen ausreichend abgeschirmt hatte.
„Jetzt halte ich Stallwache“, dachte sie vergnügt, „bleib’ die ganze Nacht wach. Nein, wenn das unterwegs passiert wäre! Aber der Froschkönig hätte sicher Hilfe geholt, bestimmt! So patent, wie er ist, und so verläßlich! Und – nein, der heißt bestimmt anders, Roland vielleicht, oder – aber niemals Nebukadnezar ...“
Und da war sie schon eingeschlafen.
An einem strahlendbunten, in warmer Sonne schwimmenden Oktobertag kamen Pölze und Kornelia heim. Es war bisher windstill gewesen, die Bäume hielten ihren Schmuck noch fest; die Färbung hatte in diesem Jahr etwas Überwältigendes. Eine so bunte Skala von Gelb, Orange, Gold und dunklem Rot glaubte Kornelia noch nie erlebt zu haben, und sie fand das Ganze beinahe schwermütig schön. Warum? Weil es nicht in jedem Jahr so strahlte oder weil man wußte: ein Nachtfrost, ein ordentlich rüttelnder Sturm, und alles ist dahin?
Welch ein Unsinn. Als Kind des Landes wußte sie: Das Leben geht weiter. Der Sommer kommt wieder. Auf den Winter folgt der Frühling mit tausend blühenden Bäumen. Wie schön, daß das so war. Eines jedenfalls war ihr sehr klar, sie hätte nie in den Tropen leben mögen.
Der Wechsel, der Reigen der Jahreszeiten war es, der entzückte; sei es nun schäumende Blütenfülle, satter Sommer, sonnenmilder Herbst oder blitzender Rauhreif.
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