Sie brauchten leider auch nicht lange, um mich zu finden.
Woran es liegt, dass manche von ihnen rennen können und andere nicht, konnte ich bis heute nicht herausfinden. Die Renner lebten irgendwie noch, die anderen nicht. Das ist alles, was ich weiß, oder was überhaupt irgendjemand weiß. Außer natürlich, dass sie schnell sind, das weiß jeder.
Und zwar verdammt schnell.
Hatte ich erwähnt, dass ich der Wagenkolonne hinterher winkte, als sie losfuhren und mich mitten auf der Straße zum Sterben zurückließen? Niemand von ihnen winkte mir zurück.
Mit der Waffe in der Hand folgte ich der Kolonne in einer bescheidenen Geschwindigkeit von etwa viereinhalb Stundenkilometern. Nach gut zwei Stunden schmerzte mein Bein so sehr, dass ich es am liebsten amputiert hätte. Nach weiteren zehn Schritten musste ich mich schließlich hinsetzen.
Es war November und für diese Jahreszeit ungewöhnlich warm in Neuengland. Auch daran erinnere ich mich noch, ebenso wie an einige Fahrzeuge, die an mir vorbeigefahren sind und von denen natürlich keines anhielt, während ich unter der Sonne New Hampshires saß und quälende Schmerzen durchlitt. Vermutlich war es auch besser für sie, dass sie es nicht taten. Ich fragte mich gerade, wie lange ich das noch durchstehen würde müssen, als ich auf einmal von einer Übelkeit erfasst wurde, wie ich sie noch nie zuvor in meinem ganzen Leben verspürt hatte, und dann fing ich auch schon an, mich zu übergeben. Es hatte sich nicht langsam angekündigt, sondern packte meine Innereien und drehte sie einfach durch die Mangel, bis mein ganzer Mageninhalt, von Kaffee bis zu Instantnudeln, vor mir auf dem Mittelstreifen des Highways lag. Die Nudeln sahen ein bisschen aus wie Würmer, die sich durch das Erbrochene schlängelten, weshalb ich direkt wieder würgen musste und mich weiter erbrach.
Ungefähr einen Kilometer von mir entfernt, konnte ich jetzt eine Bewegung ausmachen. Definitiv kein Auto, aber da ich aufgrund meiner momentanen Verfassung nur verschwommen sehen konnte, konnte ich leider nicht genau erkennen, worum es sich handelte. Ich dachte noch, es wäre wahrscheinlich gar nicht gut, wenn mich ausgerechnet jetzt ein Schwindelgefühl erfasste, als ich auch schon ohnmächtig wurde.
Man würde denken, dass ich mir vor Angst in die Hosen gemacht hätte, als ich aufwachte und sah, wie ein lebender Toter auf mich zu getaumelt kam, vor allem, da er nur noch etwa zehn Meter von mir entfernt war, aber ich fühlte mich seltsamerweise vollkommen gelassen. Zumindest so gelassen, wie man sein konnte, wenn man bedachte, dass es sich anfühlte, als würde eine Horde Dämonen mein Bein von innen herausreißen und mein T-Shirt von stinkendem und teils verdautem Zeug bedeckt war.
Mit ausgestreckten Armen näherte sich das Ding jetzt meinem nur halb aufgerichteten Körper, während ich mich nach wie vor komplett benommen fühlte. Das Ding hatte offenbar Hunger. Der Blick seiner toten Augen sagte mir, dass ich in etwa so aussah, wie die herrlich lecker zubereiteten Roadrunner, von denen der Kojote in dieser Zeichentrickserie immer fantasierte. Es sabberte und schäumte, überall war Blut, und das Ding war definitiv tot, aber vor allem war es im Moment viel zu nah.
Als es noch etwa drei Meter entfernt war, kam ich endlich wieder richtig zu mir, doch in diesem Moment brach die für Untote in solchen Momenten ganz typische Hektik aus.
Ihr habt das bestimmt schon beobachtet. Hoffentlich nicht von Nahem, aber garantiert habt ihr es schon gesehen. Sie schwanken und taumeln, manchmal stolpern sie auch, aber sie kommen immer wieder hoch. Egal ob sie allein oder in Gruppen unterwegs sind, sie sind stets furchtbar langsam, bis sie nur noch etwa eine Armlänge von euch entfernt sind, dann ist es plötzlich so, als würden sie sich in Geparden verwandeln … als würden sie ihre gesamte Geschwindigkeit nur für dieses letzte Stück aufheben … als wären sie eine Sekunde lang unter Hochspannung. Wahre Überlebende, diejenigen von uns, die die Fähigkeiten und Schwächen der Toten zwar nicht mehr fürchten, aber nach wie vor niemals unterschätzen, haben gelernt auf diesen speziellen Moment zu warten, bevor wir zuschlagen. Der Grund dafür ist, dass währenddessen alle Geschwindigkeit und ihre komplette Balance nur noch in eine Richtung zielt, nämlich auf dich zu.
Was dir natürlich nichts bringt, wenn du gerade in einer Pfütze aus Erbrochenem auf deinem Hintern sitzt.
Es war so, als würde eine formlose Masse aus Tod und Zähnen auf mich herabstürzen. Manche Leute würden vermutlich sagen, dass die Toten auf die Knie sinken, wenn sie etwas angreifen, das sich auf dem Boden befindet, aber das stimmt nicht. Es sind gar nicht ihre Knie, die zuerst aufschlagen. Der offene Mund bewegte sich rasend schnell auf mich zu. Intuitiv hob ich meinen Unterarm, um das Ding aufzuhalten, aber das geschah lediglich aus reiner Panik. Ich meine, versucht das doch mal, legt euch auf den Boden und lasst jemanden auf euch drauf fallen. Am besten ein zehnjähriges Kind, falls ihr eines zur Verfügung habt, und dann haltet euren Unterarm hoch, um den Aufprall abzuwehren.
Als ob das klappen würde.
Klein Billy oder Sara – oder wie auch immer das Kind heißen mag – wird einfach durch die schwächliche Barrikade brechen wie ein Zug auf Volldampf.
Und dieses tote Ding, was wohl einmal eine Dame war, war nicht gerade ein zehnjähriges Kind. Sie war eine beeindruckende Frau und damit meine ich bestimmt nicht ihre Persönlichkeit.
Das Miststück fiel natürlich direkt mit ihren Zähnen auf mich. Wenn ich geglaubt hatte, das Erbrochene würde stinken, dann war das nichts im Vergleich zu dieser Frau. Keine Ahnung, wie sie nach etwas riechen konnte, das wochenlang in der Sonne verrottet war, immerhin war die Seuche zu diesem Zeitpunkt gerade erst ausgebrochen gewesen, aber sie tat es. Sie biss mich unterhalb des Schlüsselbeins und ich schrie erschrocken auf. Dann zog sie ihren Kopf zurück und ich schrie noch lauter, denn jetzt war ihr Mund nicht mehr leer.
Noch etwas, das ihr vermutlich längst wisst, aber hey, diese Aufzeichnung ist schließlich für die Nachwelt gedacht: Sobald sie dich im Griff haben, lassen sie dich nicht mehr los.
Sie riss einen saftigen Happen aus meiner Schulter, garniert mit einem Stück des Gefängnis-T-Shirts. Offenbar war sie multitaskingfähig, denn sie befingerte währenddessen auch noch meine Kleidung. Nachdem sie das Stück meiner Schulter runtergeschluckt hatte, beugte sie sich vor, um einen weiteren Bissen zu nehmen, aber das ließ ich nicht zu.
Obwohl ich ein kräftiger Kerl bin, wog die Frau bestimmt hundert Kilo mehr als ich, und das lag nicht an schweren Knochen. Ich schob sie zur Seite, als ginge es um mein Leben. Was es ja auch tatsächlich tat. Nicht, dass es in diesem speziellen Moment – infiziert und angeknabbert, wie ich schon war – besonders viel wert gewesen wäre, aber hey, es ist nun mal das Einzige, das ich habe.
Als Nächstes hatte sie es offenbar auf meine Nase abgesehen und zog mich an sich heran, während ich verzweifelt versuchte, sie wegzustoßen. Es ist wirklich faszinierend, woran man sich unter speziellen Umständen erinnert und woran nicht. Ich weiß heute weder, welche Haarfarbe sie hatte, noch welche Kleidung sie trug oder wie ihr totes Gesicht überhaupt aussah, aber dass sie fett war, daran erinnere ich mich noch. Fett und stark.
Ich war der Gewinner dieses Tauziehens, das wir noch ein paar Sekunden lang fortführten, bevor ich über unseren Kampf hinweg schlurfende Schritte hörte. Ich erlaubte mir einen flüchtigen Blick in die Richtung, aus der das Geräusch kam, und siehe da, die Zwillingsschwester der fetten, toten Dame wollte ihr anscheinend einen Besuch zum Brunch abstatten. Natürlich waren sie nicht wirklich Zwillinge, aber was die Größe und den Umfang anging, schenkten sich die beiden nichts.
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