Unter den englischen Walfischfängern erfreute sich damals William Scoresby eines ungewöhnlich hohen und wohlverdienten Ansehens. Seit 1806 war er in den Meeren Spitzbergens zu Hause wie keiner seiner Zunftgenossen, er war im Mai 1806 in tollkühner Fahrt bis über den 81. Grad nach Norden vorgedrungen und erwarb sich auf zehn Fischzügen von 1810 bis 1822 nicht nur Reichtümer, sondern auch Kenntnisse der Arktis, in denen ihm nur einer gleichkam, sein Sohn, der ihn auf den meisten Reisen begleitet hatte. Dieser jüngere Scoresby, der ebenso wie sein Vater in wissenschaftlicher Hinsicht Autodidakt war, hat 1819 ein Buch über den Walfischfang herausgegeben, das sich noch heute sehen lassen kann, und dieser selbe Scoresby war es, der im Jahre 1817 die Londoner Gelehrten darauf aufmerksam machte, daß infolge eines ungewöhnlich heißen Sommers das Eis in den nördlichen Meeren überall in starker Bewegung sei; eine solche Gelegenheit, in höhere Breitengrade, vielleicht gar bis zum Nordpol, hinaufzukommen, werde wohl so bald nicht wiederkehren. Die englische Admiralität ließ sich das gesagt sein und rüstete sofort zwei Expeditionen aus. Die eine davon sollte Scoresby selbst übernehmen, aber da er nur ein Handelskapitän war, wurde ihm ein Offizier der königlichen Marine vorgesetzt; er trat deshalb zurück. Kommandeure der beiden Expeditionen wurden nun die Kapitäne John Ross und David Buchan. Ross sollte mit zwei Schiffen, „Alexander“ und „Isabella“, die Baffin-Bai aufwärts fahren, die man seit 200 Jahren gemieden hatte, und Buchan, ebenfalls mit zwei Schiffen, zwischen Spitzbergen und Grönland geradeswegs zum Nordpol vordringen und weiter in den Stillen Ozean hinein. Vorbild des einen war also Baffin, Vorbild des andern Hudson, zwei Namen, die das Größte erwarten ließen, und um den Eifer der gesamten Schiffsmannschaft anzuspornen, wurde für Erreichung des 110. Längengrades innerhalb des Polarkreises, also etwa der jetzigen Melville-Insel, ein Preis von 5000 Pfund Sterling, für die Überquerung des Nordpols ein Preis von 20000 Pfund ausgesetzt.
Kapitän Buchan stach mit seinen Schiffen „Dorothea“ und „Trent“ am 25. April 1818 in See, kam aber nicht weiter als bis zum 80. Grad und fuhr nach Grönland hinüber. Ein rasender Sturm drohte beide Schiffe zwischen den Eismassen zu zertrümmern. Ausweichen war nicht mehr möglich — also steuerte Buchan in die mächtigsten Eisberge hinein und begab sich gewissermaßen in ihren Schutz, den einen als Brustwehr gegen den andern benutzend. Dies kühne Manöver rettete ihn. Aber nach diesem Vabanquespiel war der Mut des Kapitäns und seiner Offiziere erschöpft, sie machten kehrt. Nur einer war mit diesem Rückzug nicht einverstanden, der Leutnant John Franklin, ein tollkühner Draufgänger, der mit seinen 32 Jahren sich bereits in der halben Welt umhergetrieben, sich als hervorragender Seemann und als tapferer Soldat in verschiedenen Schlachten bewährt hatte; dem wollte es schlecht gefallen, daß der Kurs schon wieder der Heimat zuging und die Reise zum Nordpol ein so vorschnelles und wenig rühmliches Ende fand. Er erbot sich, mit dem zweiten Schiff, das er kommandierte, allein einen neuen Versuch zu wagen. Aber da er der Jüngere war, mußte er dem Befehl zum Rückzug gehorchen, und Ende Oktober liefen die beiden von Sturm und Packeis ziemlich mitgenommenen Schiffe wieder in der Themse ein.
Mittlerweile war Kapitän Ross mit der „Isabella“ und dem „Alexander“ die Westküste Grönlands hinaufgefahren, hatte sich durch die gefährlichen Eismassen der Baffin-Bai mit wackerer Ausdauer durchgekämpft und war bis zum Eingang des Smith-Sundes vorgedrungen, nicht ganz so weit wie Baffin vor 200 Jahren. Da er aber den Smith-Sund für eine Sackgasse hielt, drehte er nach Westen bei, um dort eine Durchfahrt zu suchen. Der Jones-Sund erwies sich als unzugänglich; der südlichere Lancaster-Sund aber, den schon Baffin gesehen, doch nur für eine Bucht gehalten hatte, lag völlig eisfrei als prächtigste Fahrstraße da. Mit vollen Segeln und lautem Hurra liefen nun die Engländer in diesen nie befahrenen Meeresarm ein, dessen Strömung ihnen aus geheimnisvoller Ferne entgegenzukommen schien. Die Mannschaft jubelte, ihres Sieges und Preises gewiß, und die Spannung stieg mit jeder Stunde. Als aber das Flaggschiff „Isabella“ auf 80,4 Grad westlicher Länge gekommen war, machte es kehrt, und der „Alexander“, den der Leutnant William Edward Parry befehligte, mußte ihm folgen. Kapitän Ross hatte über der Nebelbank im Westen eine hohe Gebirgskette gesichtet, die den Lancaster-Sund abzuschließen schien, die von ihm benannten Crokerberge. Parrys schärfere Augen erkannten sogleich, daß Ross einer optischen Täuschung zum Opfer gefallen war, wie sie in jenen Zonen häufig ist; aber der Kommandant war davon nicht zu überzeugen, und Parry mußte sich fügen. So endete auch diese Expedition mit einer Enttäuschung für Führer und Mannschaft; doch erwarb sie sich dadurch ein Verdienst, daß sie den Ruhm ihres großen Vorläufers Baffin wiederherstellte, den damals gerade der vorhin erwähnte Geograph Barrow heftig angegriffen hatte; alle Angaben Baffins erwiesen sich als vollkommen zuverlässig und genau.
Im November 1818 trafen sich nun im Vorzimmer der Admiralität zu London zwei unzufriedene Wagehälse, die Unterbefehlshaber Franklin und Parry, die beide über die Unentschlossenheit und Zaghaftigkeit ihrer Vorgesetzten Klage führten. Ihr zuversichtliches Auftreten und ihre Beredsamkeit bestimmten die Admirale, gleich für das nächste Jahr zwei neue Expeditionen auszurüsten und Parry und Franklin das selbständige Kommando zu übertragen. Parry sollte nochmals den Lancaster-Sund aufsuchen und den Weg weiter verfolgen, auf dem er als Untergebener des Kapitäns Ross hatte umkehren müssen; Franklin dagegen von der Hudson-Bai aus zu Land die Nordküste Amerikas zu erreichen suchen und sie dann nach Osten verfolgen, um, wenn das Glück ihnen hold sein sollte, dort irgendwo zusammenzutreffen.
Damit treten zwei Männer auf den Plan, von denen die Geschichte der Polarforschung Großes zu berichten hat.
„Hecla“ und „Griper“ hießen die beiden Schiffe, mit denen Parry am 4. Mai 1819 in See stach. Den kleinen Segler „Griper“ führte Kapitän Liddon; Parrys Begleiter auf dem „Hecla“ waren der erfahrene Astronom Kapitän Ed. Sabine, der vordem Grönland erforscht hatte, und der später so berühmte James Ross, der Neffe des alten John, von dessen mißglückter Polarfahrt das vorige Kapitel berichtete. Mitte Juli kreuzten die beiden Schiffe in stetem Kampf mit ungeheuren Eisbergen vor dem Lancaster-Sund, und bald stand Parry vor der Flaggenstange, die John Ross im vorigen Jahr, ehe er wieder südwärts steuerte, auf der höchsten Spitze der Possessionsbaiküste errichtet hatte. Daneben war ein Steinmal, in dem Ross eine Urkunde über die Besitzergreifung des von ihm zuerst betretenen Landes durch England niedergelegt hatte. Seitdem pflegte jeder Polarfahrer an bemerkenswerten Punkten seines Weges solch einen arktischen Briefkasten zu bauen, um den Beweis seiner Anwesenheit zu geben, sich das Prioritätsrecht seiner Entdeckungen zu sichern, neu entdeckte Küsten für sein Vaterland in Besitz zu nehmen und den nächsten Forscher, der in diese Eiswüste vordrang, darüber aufzuklären, wo er sich befinde. An möglichst in die Augen fallenden und geographisch wichtigen Punkten errichtet, bildeten diese Briefkästen nach und nach ein Netz von Landmarken und Wegweisern, das auf den Spezialkarten, dem Handwerkszeug jedes Forschers, genau verzeichnet ist.
Parry war genau an demselben Punkte der Küste gelandet wie vordem Ross; in dem vom Sturm kahlgefegten Sand fand er, nach elf Monaten, noch die Fußspuren seiner Vorgänger! An der Mündung eines Flusses, der aus dem unbekannten Landinnern zum Meere strömte, zeigten sich einige spärliche Frühlingsboten: frisches Moos, Kräuter und winzige Blumen. Hier errichtete Parry ein eigenes Steinmal und barg darin einen Bericht über seine bisherige Fahrt. Die nächsten Wochen aber stellten seine Ausdauer auf eine harte Probe. Die Launen des Windes und die eigensinnigen Wirbel des Packeises hielten die Schiffe fest. Erst Anfang August gelang es, in den Lancaster-Sund einzudringen und sich langsam, langsam nach Westen vorwärts zu arbeiten, trotz Nebel, Schneesturm und Windstille. Oft vertäuten sich die beiden Schiffe an Eisbergen, die das andringende Packeis beiseite schoben; dann wieder, wenn das Segeltuch schlaff hing, mußten sie vorwärts „gewarpt“ werden: ein Anker wurde möglichst weit voraus am Eisrand einer Küste festgemacht, seine Kette aufgewunden und so das Schiff weitergezogen. Aber Parrys und seiner tapfern Mannschaft eiserne Ausdauer fand überreichen Lohn. Die „Krokerberge“ erwiesen sich tatsächlich als eine Luftspiegelung, keine Landmasse versperrte den Weg, die Straße nach Westen vom Lancaster-Sund aus war die richtige. Und so war es Parry beschieden, an Land und Meer eine völlig neue Welt, weit größer als sein Vaterland, dem Urnebel der Schöpfung zu entreißen und ihr die Namen zu geben, die sie heute noch trägt: die Admiralitäts-Einfahrt, die Leopolds-Inseln und die Prinzregenten-Einfahrt, die Barrow-Straße, Kap Riley an der Südwestecke der großen Insel Nord-Devon, die Beechey-Insel, die 30 Jahre später hohe Bedeutung gewann, den Wellington-Kanal, der geradeaus zum Pol zu führen schien, die Cornwallis- und die Griffith-Inseln, den Melville-Sund, die Bathurst-Insel im Norden und schließlich die Melville-Insel, wo sich ein Hafen fand, der zur Überwinterung wie geschaffen schien. Der 110. Grad westlicher Länge war hier erreicht, der Preis von 5000 Pfund Sterling gewonnen, das Problem der nordwestlichen Durchfahrt so gut wie gelöst. Nur noch ein paar Tage günstiger Wind — dann mußte das Eismeer nördlich von Alaska und der Bering-Straße am Horizont erscheinen. Also weiter nach Westen! Im Süden wurde bereits wieder eine neue Küste gesichtet, Banks-Land, die letzte gewaltige Insel des nordamerikanischen Archipels — dann aber zwangen Windstillen und Schneestürme Parry zur Umkehr, und er durfte von Glück sagen, daß er am 26. September 1819, noch eben rechtzeitig vor den nächsten Vollmondspringfluten, den Winterhafen an der Melville-Insel erreichte. Der Hafen war schon vereist, und von der Fahrstraße aus mußte ein Kanal von 3½ Kilometer Länge durch das Eis gebrochen werden, um die Schiffe an Land in Sicherheit zu bringen. „Winterhafen“ heißt der Ort noch heute.
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