«Du wusstest nicht, dass ich komme, nehme ich an.»
«Nein. Also Fiona sagte, es wäre unwahrscheinlich, dass du deine Ferien hier verbringen würdest.»
Er schnaubte und nahm einen Schluck seines Eistees. «Das kann ich mir denken.»
«Und?»
«Und was?»
«Wirst du deine Ferien hier verbringen?»
Er machte eine ausschweifende Geste mit seinen Künstlerhänden, die aussahen, als hätten sie noch nie einen Handschlag Arbeit getan. «Sieht fast so aus, oder?» Er musste mich für einen kompletten Idioten halten.
«Ja, klar.»
Es entstand eine Pause und ich fing an, auf meinen Füßen zu wippen.
«Na schön, Jonas …»
«Jona», korrigierte ich ihn. «Ohne s. Wie der Prophet in der Bibel. Du weißt schon. Der, der von dem Wal verschluckt wird.» ‹Herrgott, warum redete ich schon wieder so viel?› Ich konnte förmlich zusehen, wie Tristan mich mehr und mehr als Trottel abstempelte.
«Also. Jona», sagte er betont und obwohl er dabei so herablassend wirkte, gefiel es mir, meinen Namen aus seinem Mund zu hören. «Lässt du mich jetzt in Ruhe meinen Drink nehmen?»
«Sicher», stammelte ich und hörte, wie das Blut in meinen Ohren rauschte. Wieder öffnete Tristan auffordernd die Hände. Er zitterte nicht mehr. «Gute Nacht», flüsterte ich.
Ich traute mich erst, wieder zu atmen, als ich zur Tür hinaus war und das beinahe so schnell, wie ich sie geöffnet hatte.
Irgendwann musste ich trotz rasender Gedanken eingeschlafen sein. Schließlich wachte ich am nächsten Morgen auf und saß gleich darauf senkrecht im Bett. In Rekordschnelle machte ich mich fertig. Doch als ich mich unten umsah und weit und breit keinen Tristan entdecken konnte, glaubte ich schon, alles geträumt zu haben.
Natürlich konnte ich Tim ausgerechnet jetzt nicht in Mexiko erreichen. Also versuchte ich, mich mit Unkraut jäten abzulenken. Doch immer wieder unterbrach ich die Arbeit, um im Hausflur auf ein Geräusch von oben zu warten.
Es wurde Nachmittag und noch immer war keine Spur von Tristan zu sehen. Da erst wagte ich mich hinauf. Ich legte das Ohr an seine Tür und hielt den Atem an, um besser hören zu können. Ich wusste nicht, wie lange ich an dem Holz horchte, und als ich endlich zur Überzeugung gekommen war, dass er nicht da war, öffnete ich die Tür.
Das Zimmer war so leer wie die Wände. Das Bett war gemacht. Ich runzelte die Stirn. Wann hatte er das Haus verlassen? Hatte er überhaupt hier geschlafen?
Ich schrak zusammen, als ich im Erdgeschoss mein Handy klingeln hörte. Um ein Haar hätte ich vergessen, Tristans Zimmertür wieder zu schließen. Ich kam gerade noch rechtzeitig ins Esszimmer, um Tims Anruf aufzugreifen.
«Bin da!», hechelte ich in den Lautsprecher.
«Huch, hast du Sport gemacht?»
«Nein.»
«Fasst du dich gerade an?»
Empört starrte ich auf das Handy. «Nein! Ich war nur oben und habe mich beeilt, um ans Handy zu kommen.»
«Dachte schon, die Villa hat eine aphrodisierende Wirkung auf dich.»
«Jaja, du mich auch.»
Dann ließ ich ihn reden. Er war gerade von seiner ersten Schnorcheleinheit zurück und überschlug sich fast vor Superlativen. Während Tim von Korallenriffen und vorbeifliegenden Rochen erzählte, merkte ich, wie idiotisch es wäre, von meiner nächtlichen Begegnung in der Küche zu berichten. Immerhin kannte er meinen Eisprinzen nicht einmal. Ich entschied, diese Lappalie für mich zu behalten, lieh Tim noch für eine halbe Stunde mein Ohr und widmete mich anschließend meiner Bachelorarbeit.
So sehr es mich freute, dass mein Freund den Sommer seines Lebens hatte: Ich fühlte mich dadurch nur noch einsamer. Die Lektüren zum teleologischen Geschichtsbild machten es nicht besser. Aber ich hatte es mir ja so ausgesucht.
Nachdem ich es mir auf meinem Bett inmitten von Notizen und Büchern zu Kriegserzählung, Paradigmenbildung und der Rekonstruktion von Bedeutung gemütlich gemacht hatte, war ich bald wieder in meiner eigenen Welt versunken. Es reichte ein Türklopfen, um mich aufzuschrecken. Ich fuhr einmal senkrecht mit dem Farbmarker durchs Papier.
Verärgert rief ich «Herein» und zuckte direkt noch einmal hoch, als mein Eisprinz im Raum stand. Natürlich hätte es außer ihm schwierig jemand anderes sein können, aber seine reine Anwesenheit sorgte für Hochspannung in mir.
Tristan sah sich erstmal seelenruhig im Zimmer um, als wäre ich gar nicht da. Was nicht so schlimm war, denn ich war ohnehin kurz sprachlos. Vor allem wegen seines Tops, das dermaßen locker hing und an den Seiten so weit ausgeschnitten war, dass ich nicht nur seine Achseln, sondern die Hälfte seiner Brust bis zu den schlanken Leisten sehen konnte. Das hatte eindeutig eine aphrodisierende Wirkung auf mich. Ich musste mich regelrecht zwingen, den Blick von dem gewagten Hemdchen zu nehmen. Gerade rechtzeitig, als mein Gegenüber auch mir seine Aufmerksamkeit schenkte.
«Du hast dich hier ja schnell eingelebt mit deiner kleinen Bibliothek.»
Ich konnte ihn noch nicht einschätzen, aber das klang fürs Erste nicht nach einem herzlichen Willkommensgruß. «Ja, na ja», wiegelte ich ab. «Ich sitze nur momentan an der Bachelorarbeit und hatte noch Platz im Koffer.»
Tristan rümpfte die Nase wie zur Kenntnisnahme und tastete mit den Augen meine Bücher ab, die noch im Regal standen, was mich nervös machte. «Worüber schreibst du?», fragte er unverhofft und ohne den Blick von den Büchern zu lassen.
Das brachte mich in eine Zwickmühle. Ich wollte kein Arschloch sein. Aber ich wusste wirklich nicht, wie ich jemandem, der seinen hübschen Kopf in erster Linie benutzte, um damit zum Friseur zu gehen, begreiflich machen sollte, woran ich arbeitete. Trotzdem versuchte ich es.
«Retrospektive Sinnstiftung in der Geschichtswissenschaft. Ich analysiere militärische Operationspläne und Kriegsberichte. Grob gesagt geht es um die nachträgliche Zuschreibung von Bedeutung. Wenn A, dann B, sozusagen. Nur eben rückwärts gedacht. Als Interpretation der Ereignisse.»
Wahrscheinlich hielt er mich hiernach nicht nur für einen Trottel, sondern auch für einen totalen Nerd. Allerdings war das schwierig abzuschätzen, denn Tristan zeigte mir nach wie vor nicht mehr als seinen Rücken. Der zugegebenermaßen kein so ganz reizloser Anblick war. Erst mit deutlicher Verzögerung deutete sein platinblonder Hinterkopf ein Nicken an.
«So wie Karma?»
Ich war nicht weniger als beeindruckt. «So ähnlich. Aber es geht schon um Fakten. Wie bei der Evolution. Oder der Klimaerwärmung.» ‹Oder der Tatsache, dass ein Vater durch den Schock über seinen schwulen Sohn einen Schlaganfall erleidet und voraussichtlich nie wieder sprechen kann.› Ich verscheuchte den Geistesblitz und lächelte Tristan krampfhaft an, als er mich endlich wieder ansah.
«Oder Religion?», führte er die Liste mit zynischem Gesichtsausdruck fort. Er musste mich für gläubig halten. Wollte er mir mit der blasphemischen Bemerkung eins reinwürgen? Seine goldbraunen Tigeraugen durchbohrten mich. «Ich glaube da eher an den freien Willen.»
Ich unterdrückte ein Schnaufen. Der freie Wille … das war wohl die elitärste Formel, seit Nietzsche Gott getötet hatte. Es wunderte mich nicht, dass er so dachte. Wenn ich in so einer Villa aufgewachsen wäre und dieselbe süße Luft atmen würde, würde ich vermutlich auch daran glauben. Um das Thema zu wechseln, kam es wie gerufen, dass ich nun an der Reihe war, seine Frage zurückzuspielen. Das gebot die Höflichkeit.
«Was studierst du?»
Tristan schlenderte ein Stück weiter durch das Zimmer und taxierte den Schreibtisch aus der Distanz mit schief gehaltenem Kopf. Als er den Zeigefinger ausfuhr, wie um das Möbelstück auf Staub zu testen, wollte ich sagen, dass er das bitte lassen sollte. Doch weil das hier sein Zuhause war, wollte ich nicht taktlos sein und konkretisierte stattdessen meine Frage.
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