«Sie haben Glück», sprach sie. «Er ist heute in einer guten Verfassung.» Ich nickte still und hörte schnell damit auf, da mir klar wurde, dass sie mich hinter ihrem Rücken gar nicht sehen konnte.
«Ich habe ihn in sein Arbeitszimmer gebracht. Da fühlt er sich am wohlsten», fügte sie hinzu und schenkte mir ein kurzes Lächeln. ‹Glaube ich gerne›, dachte ich, ‹da war er schon immer am liebsten.›
Die Hausführung endete schneller, als mir lieb war, und zwar vor der Tür des Arbeitszimmers. «Ich darf Sie dann allein lassen?» Als ich nickte, entfernte sich die Fremde mit der gleichen dienstbeflissenen Art, wie sie mich vorher empfangen hatte. Seltsames Geschöpf.
Ich wartete, bis sie aus meinem Blickfeld verschwunden war, und stand auch danach noch ein paar Minuten auf dem Flur, wo ich versuchte, meinen Atem zu regulieren. Irgendwann gab ich es auf und öffnete abrupt die Tür. Schocktherapie, das hatte Tim mir mal empfohlen.
Im Zimmer war es wider Erwarten strahlend hell. Ich hatte mir vorgestellt, dass wir uns wie im Film in einem dämmrigen Raum mit zugezogenen Gardinen wiedersehen würden. Jetzt war es hier so lichtdurchflutet wie wahrscheinlich niemals zuvor.
Ich musste nicht lange suchen, um meinen Vater in dem mit Büchern und Regalen vollgestellten Zimmer zu finden, obwohl er nicht wie in meiner Erinnerung an dem herrschaftlichen Mahagonischreibtisch saß, sondern am Fenster, gegenüber der Tür. Er wandte mir den Rücken zu, sodass ich nur seinen halbkahlen ergrauten Schädel zu sehen bekam. Als ich erkannte, dass er, anstatt in seinem normalen Sessel, in einem neumodischen Rollstuhl saß, krampfte sich mein Inneres zusammen.
«Vater?», fragte ich und musste mich räuspern, weil meine Stimme gleich nach dem ersten Wort versagte. Es gab keinerlei Reaktion. Natürlich nicht. Einen Moment blieb ich unschlüssig auf der Türschwelle stehen, dann hielt ich die Stille nicht mehr aus und lief zu ihm aufs Fenster zu.
Der Mann, der da lethargisch im Rollstuhl saß, war mir fremd. Er hatte nichts mit meinem ehrwürdigen Vater, dem Großen, dem Starken gemeinsam. Alles, was ich sah, war die in sich zerfallene Hülle eines Mannes mit leerem Blick und fahler Haut. Vor meinem inneren Auge zuckte das Gegenbild einer zornroten Wutgrimasse auf. Die Erinnerung legte sich wie eine Schablone über das neue Gesicht: maskenhaft starr und weiß wie die Wand. Doch unverkennbar war er mein Vater.
«Vater, ich … erkennst du mich?» Die Frage war überflüssig, genauso wie der ganze Besuch. Trotzdem wartete ich in verzweifelter Hoffnung auf eine Antwort. Mein Vater blieb still und bleich. Seine Augen blickten stur an mir vorbei zum Fenster hinaus. Vielleicht sah er die Bäume an oder die Wolken oder vielleicht war er auch völlig blind für alles, was ihn umgab – mich eingeschlossen.
Auf der Suche nach einer Antwort ließ ich meinen Blick nun selbst im Raum auf- und abwandern. Von den dicken, ledernen Buchrücken über die samtigen Vorhänge zu den vertrauten kuriosen Aquarellen von Darwin’schen Tiermetamorphosen, die oben von den Wänden vorwurfsvoll auf mich hinabblickten, wie auf ein Irrtum der Schöpfung. Danach sah ich wieder zu meinem apathischen Vater. Allein dass ich stand, während er saß, war schon fürchterlich falsch.
«Ich weiß, dass du mich nicht sehen willst, aber …»
Ehe ich aussprechen konnte, flog die Tür auf und das so heftig, dass sie noch in ihrem Rahmen zu beben schien. «Was hast du hier verloren?» Meine Mutter stand im Raum und starrte mich an wie einen bösen Geist. «Verlass sofort das Zimmer!»
Hoffnungsvoll sah ich zu meinem Vater, doch er erhob keinen Einwand und blinzelte nicht einmal. Ich ließ ihn in seinem Rollstuhl sitzen und ging ohne ein Wort an meiner Mutter vorbei hinaus auf den Flur.
Keine fünf Sekunden später erschien sie wieder neben mir, schloss behutsam die Tür und giftete los. «Warum bist du hergekommen? Hast du nicht schon genug angerichtet?»
«Ich wollte sehen, wie es ihm geht», murmelte ich, obwohl sie wahrscheinlich nichts von mir hören wollte, schon gar keine Rechtfertigung.
«Er ist krank. Und du hast nichts anderes zu tun, als ihn auch noch aufzuregen!»
‹Außer dir regt sich niemand auf.›
Ich zwang mich, es nicht zu sagen, und ließ die Schimpftirade stumm über mich ergehen. «Das ist verantwortungslos von dir. Ich kann gar nicht glauben, dass du dich nochmal hierherwagst!»
Sie war kurz davor, ihre hart antrainierte Contenance zu verlieren, das konnte ich deutlich sehen. Ihre Wangen bekamen dunkelrote Flecken und ihr Blick flackerte bedrohlich zwischen meinen Augen hin und her. Es fiel mir schwer, in ihr die stille Frau zu sehen, die sie immer gewesen war.
Das aschblonde Haar hatte über die letzten Monate den Glanz verloren und hing ihr in ein paar krausen Strähnen in die Stirn. Es musste sich vor lauter Ärger aus dem glattgezogenen Seitenscheitel herausgekämpft haben. Ihr Mund war ein schmaler Strich in einer Kraterlandschaft von zuckenden Falten. Sie sah kaum jünger aus als mein versteinerter Vater im Nebenraum, obwohl er über ein Jahrzehnt älter war als sie.
«Er hat mich nicht erkannt», sagte ich bloß. Über ihre blauen Augen legte sich ein Schatten und ich überlegte, ob draußen wohl immer noch die Sonne schien.
«Verschwinde, Jona.» Das Gesicht meiner Mutter war so hart wie die Wand hinter ihr. «Komm nicht wieder her.»
Ich wusste nicht warum, aber ich nickte nur. Anstatt wie eben bei meinem Vater auf eine zweite Chance zu warten, drehte ich mich um und lief den Weg, den mir die fremde Frau gewiesen hatte, allein zurück.
«Du bist nicht mehr willkommen in diesem Haus», rief mir meine Mutter vom obersten Treppenabsatz nach, als ich die Haustür erreicht hatte und mich mit letzter Kraft nach draußen rettete.
Ich passierte die Außentreppe und den dörren Hortensien-Strauch, ohne davon Notiz zu nehmen. Wie aufgewühlt ich war, merkte ich erst, als ich nach einigen Metern Entfernung nach meinem Handy tastete und das blöde Ding schwerlich aus meiner Tasche ziehen konnte, da meine Hände zitterten.
Ich wählte Tims Nummer und wartete kaum das Freizeichen ab. Ohne Ankündigung sprach ich ins Telefon.
«Ich mach’s. Wie ist die Adresse der Villa?»
Am nächsten Morgen zögerte der Taxifahrer kurz, als ich ihn nach Bredeney zum Brucker Holt kommandierte. Zwar lag mein Elternhaus auch nicht in der schlechtesten Wohngegend, aber das war kein Vergleich zum Nobelviertel im Süden der Stadt.
Die Straße war gesäumt von Bäumen. Hinter den ordentlich kupierten Hecken und langen Zäunen ragten in regelmäßigen Abständen die Erker und verglasten Galerien der Villen hervor. Hier und da war auch mal eine saubere Hausfassade oder die videoüberwachte Schottereinfahrt zu einem der weitläufigen Grundstücke zu sehen.
Wahrscheinlich dachte der Fahrer, ich würde Einbrecher spielen oder gleich den nächstbesten Passanten ausrauben wollen. Mit Hoodie, Jeans und ausgelatschten Turnschuhen sah ich nicht wie jemand aus, der hier wohnte oder hierher eingeladen wurde. Prompt verstellte der Taxifahrer den Rückspiegel, sodass er mich bestens im Visier hatte. Ich konnte beobachten, wie sich seine Augen mit jedem weiteren Haus enger und enger zusammenzogen, und war heilfroh, als er endlich anhielt.
Hastig reichte ich ihm das Geld, registrierte, dass ich damit pleite war, und stieg schnell aus. Die Aussicht auf das Anwesen der Duvalls haute mich dann so um, dass ich mich an den Wagen lehnen musste und ins Taumeln geriet, als das Taxi losfuhr.
Der blickdichte dunkle Aluminiumzaun ging mir knapp bis zu den Schultern und wurde von meterhohen Sträuchern und rotblühender Clematis-Ranken übertrumpft. Dahinter thronte in einiger Ferne eine glänzende Dachspitze. Als ich den Zaun ablief und das Tor erreichte, wo die Büsche und Hecken der Anlage endeten, sah ich vor mir ein geometrisches Kunstwerk von rechteckigen und quadratischen Blöcken, die zu einem zweistöckigen Villenkomplex verbunden waren. Der glatte Hausputz strahlte in reinstem Weiß.
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