In diesem Augenblick trat ein Beamter grüssend an ihn heran, worauf unser Oberst aufstand und uns mit ein paar Worten der Entschuldigung verliess. Sofort wendete ich mich an die Dame neben mir und sagte: „Sie haben mich Arthur genannt, meine Gnädige; aber wenn wir diese kleine Komödie durchführen wollen, so müssen Sie mir auch schnell, ehe der Russe zurückkommt, Ihren Vornamen sagen.“
„Gewiss,“ antwortete sie, „mein erster Name ist Helene.“
„Und Ihr zweiter?“
„Marie.“
„Helene, Marie — wundervoll!“ erklärte ich. „Und Ihr Geschlechtsname?“
„Sagen Sie mir erst den Ihren,“ bat sie, „Ihren Taufnamen habe ich auf dem Pass gelesen, aber Ihren Familiennamen konnte ich nicht sehen.“
„Lenox,“ entgegnete ich, „Arthur Bainbridge Lenox.“
Bei dieser Mitteilung schien sie stutzig zu werden, aber gleich darauf sagte sie mit einem etwas verlegenen Lächeln: „Dann heisse ich auch Lenox, denn für den Augenblick muss der Name Ihrer Gattin der meine sein. Ein einziger Fehlgriff konnte jetzt uns beiden die schlimmsten Ungelegenheiten machen, weil ein falscher Pass —“
Sie brach kurz ab, denn eben nahm Petroff wieder an ihrer Seite Platz und bemerkte: „Es war mir schmerzlich, mein Essen im Stich lassen zu müssen, aber noch ungleich schmerzlicher, mich von Ihnen trennen zu müssen, meine gnädige Frau.“ Diesen Worten verlieh ein beredter Blick der dunklen Tatarenaugen auf die neugetaufte „Helene Marie Lenox“ noch mehr Nachdruck. Dann fuhr er fort: „Es war aber eine Passangelegenheit, die sofort erledigt werden musste. Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass wir soeben einen guten Fang gemacht haben.“
„Falscher Pass vermutlich?“ bemerkte meine schöne Gefährtin.
„Mann oder Weib?“
„Mann,“ entgegnete Petroff kurz.
„Natürlich,“ rief Helene mit einem Anflug von Koketterie in ihrem Lächeln, „wäre es ein Weib, ein schönes Weib gewesen, so hätten wir Sie nicht so schnell wieder hier gehabt.“
„Auch die schönste Verbrecherin in ganz Russland hätte mich nicht einen Augenblick länger von Ihnen entfernt zu halten vermocht, gnädige Frau,“ erwiderte der galante Oberst, Bewunderung im Blick, Koketterie im ganzen Wesen.
Obgleich ich fleissig mit Messer und Gabel hantierte, fing ich den Blick auf, und es überkam mich dabei etwas von der Empfindung eines Ehemannes. Ich suchte das Gespräch abzulenken und sagte gleichgültig: „Ich glaube, derartige falsche Passgeschichten sind in Russland etwas ganz alltägliches.“
„Keineswegs,“ erwiderte Petroff, „dazu sind die Strafen für dies Verbrechen viel zu streng.“
„Vermutlich nicht nur Geld-, sondern auch Freiheitsstrafe,“ sagte ich vielleicht etwas erregt.
„Ja, lebenslängliche Einsperrung — Sibirien,“ flüsterte der Oberst. „Nur unsre allerverzweifeltsten Verbrecher wagen einen falschen Pass zu gebrauchen.“
Klirrend fielen mein Messer und meine Gabel auf den Teller.
„Koste einmal diese Majonnaise, lieber Arthur,“ warf die vermeintliche Frau Lenox ein, „du bist ja, wie ich sehe, mit deinem Fasan fertig, und sie ist wirklich ganz vorzüglich; Oberst Petroff muss auch welche nehmen.“ Und damit reichte sie dem Offizier die Schüssel mit einem solchen Lächeln und so viel Anmut, dass der bewundernde Russe gar nicht bemerkte, wie völlig mir Nervenstärke und Esslust abhanden gekommen waren.
„Falsche Pässe — Strafen — Sibirien — nur verzweifelte Verbrecher wagen sie zu gebrauchen,“ summte es in meinem Kopf.
Nun kam ein plötzlicher Entschluss über mich.
Dies blendende Weib stempelte mich durch den Gebrauch eines falschen Passes zu einem russischen Verbrecher, aber die deutsche Grenze lag nur fünfzig Schritt von hier, und ich wollte wieder hinüber, so lange noch Zeit war, den Pratzen des russischen Bären zu entkommen.
Mit einer leichten Entschuldigung gegen die Circe, die mich in diese falsche Stellung gelockt hatte und nun mit dem russischen Oberst ganz harmlos aber entzückend über den Salat plauderte, stand ich vom Tisch auf, schritt zum Saal hinaus und auf das im Augenblick glücklicherweise offene Gitterthor zu.
Nun war ich nur noch ein paar Fuss weit von Deutschland entfernt, und im nächsten Augenblick wäre ich ausser aller Gefahr gewesen, wenn mir der Ausweg nicht plötzlich versperrt worden wäre.
„Halt! Ihre Erlaubnis, Russland zu verlassen!“
„Natürlich habe ich keinen derartigen Pass. Sie haben mich ja vor noch nicht einer halben Stunde mit dem Berliner Zug ankommen sehen. Ich will nur geschwind nach dem Zug zurückgehen, denn ich habe ein Paket liegen lassen, das sehr wichtig für mich ist und ohne das ich unmöglich weiter reisen kann,“ erklärte ich dem Beamten in meinem besten Französisch.
„Ohne einen Pass können Sie das Reich des Zaren schlechterdings nicht verlassen,“ erwiderte der Beamte entschieden aber höflich.
„Aber es muss sein! Ich kann das Paket nicht zurücklassen!“
„Unmöglich!“
Und es war unmöglich — die beiden gekreuzten Bajonnette vor mir sagten das deutlicher als alle Worte.
„Vielleicht kann dem gnädigen Herrn aber doch geholfen werden,“ sagte der Cerberus und flüsterte einem Assistenten auf der andern Seite der Grenze ein paar Worte zu. In der nächsten Minute stand mir der Schaffner unsres Berliner Zuges auf der deutschen Seite des Grenzgitters gegenüber.
„Wenn Sie mir den Gegenstand beschreiben wollen, so werde ich ihn suchen und Ihnen nach Petersburg nachschicken,“ sagte der Schaffner höflich.
Nun blieb mir keine andre Wahl — ich musste weiter lügen. Nachdem ich dem Schaffner den verlorenen Gegenstand beschrieben, ihm meine Petersburger Adresse angegeben und einen deutschen Thaler in die Hand gedrückt hatte, schlenderte ich langsam nach dem Speisesaal zurück. Nun musste ich mich wohl oder übel wieder neben meine Mitschuldige setzen und die Komödie bis zum guten oder schlimmen Ende weiter spielen.
In diesem Augenblick überkam mich die entsetzliche Vorahnung eines schlimmen Endes mit aller Macht, denn der erste Reiz des Abenteuerlichen war vorüber, und nun begann sich das Gewissen zu rühren und kniff mich ganz gehörig.
Was würde mein einziges, geliebtes Weib in Paris wohl sagen, wenn ihr diese Geschichte je zu Ohren käme? Wie würden ihre ehrlichen blauen Augen vor Entrüstung blitzen und flammen, wenn sie wüsste, dass ich irgend einem andern Weib gestattete, sich ihren Namen und ihre Stellung anzumassen, dass ein andres Weib ihren Platz an meiner Seite ohne ein Wort des Widerspruchs von mir einnehmen durfte? Und doch hatte mein übereiltes Vorgehen dies alles meiner Sicherheit wegen notwendig gemacht. Ach Gott! noch zum Abschied hatte sie gesagt: „Nimm mir dein empfängliches Herz hübsch in acht, du lieber, alter Arthur, lass dich durch deine militärische Ritterlichkeit in keine Schlingen locken und sei hauptsächlich vor schlauen Weibern auf der Hut. Denke dran, wie du bei unsrer letzten Spritzfahrt nach New York auf einem transatlantischen Dampfer beinahe wegen Schmuggels verhaftet wurdest, bloss weil du zu höflich warst, um einer niedlichen französischen Putzmacherin, die dir ein Paket zu tragen gab, deinen Arm und deinen Schutz auf dem Gang über die Fallreepstreppe zu verweigern. Denke daran, was damals die Zeitungen alles über dich brachten!“
Und nun befand ich mich hier in einer noch viel schlimmeren Lage, denn in den Vereinigten Staaten trifft den Schmuggler nur eine leichte Busse, während die Strafe, die in Russland auf einem falschen Pass steht, sehr schwer ist.
Mit einem unterdrückten Fluch kehrte ich zu meiner Mahlzeit zurück. Als ich eintrat, bemerkte ich gleich, dass Helene ängstlich nach dem Eingang blickte und offenbar, trotz ihres lebhaften Gespräches mit dem Oberst, an mich gedacht hatte, wenigstens atmete sie erleichtert auf, als ich mich neben sie setzte.
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