Nur wenige selbst gesetzte oder von der Umwelt vorgegebene Anforderungen basieren auf einem einzigen Ziel. Sie lassen sich vielmehr durch eine Zielhierarchie beschreiben, in der es ein übergeordnetes Ziel gibt, das in Unterziele aufgeteilt ist. Das stellt besondere Herausforderungen an das Arbeitsgedächtnis, da für die unterschiedlichen Ziele verschiedene Informations- und Wissenselemente mit unterschiedlichen Prioritäten im Arbeitsgedächtnis gehalten werden müssen.
Mit anderen Worten: Die unterschiedlichen Elemente sind zu unterschiedlichen Zeitpunkten relevant und dementsprechend muss ihr Aktivierungsniveau an den Zeitverlauf angepasst werden. Ein Beispiel dazu: Wenn der Plan gefasst wurde, für acht Personen eine anspruchsvolle Mahlzeit zuzubereiten, ist die Aktivierung der Personenzahl bei manchen Unterzielen – z. B. dem Einkaufen oder bei der Entscheidung, wann man genug Kartoffeln geschält hat – relevant. Ist man hingegen gerade dabei, die Sauce Hollandaise vorzubereiten, muss man sich darauf konzentrieren, das Gerinnen der Eier zu verhindern. Deshalb ist gerade nicht relevant, wie viele Personen zum Essen kommen. Aber die Information darf nicht ganz in Vergessenheit geraten, da sie später wieder aktualisiert werden muss. Gleichzeitig muss das Arbeitsgedächtnis noch irrelevante Information hemmen. Der Lärm eines vorbeifahrenden Zuges muss zunächst als ungefährlich erkannt und dann ausgeblendet werden. Das Eigelb beim Zubereiten der Sauce Hollandaise erinnert vielleicht an einen Sonnenuntergang – aber wenn die Sauce gelingen soll, darf man sich diesen Erinnerungen nicht hingeben. Aus den Beispielen wird deutlich, dass das Arbeitsgedächtnis die Funktion hat, zwischen im Langzeitgedächtnis gespeicherter und eingehender neuer Information zu vermitteln. Wie das genau geschieht, wird von der zu bewältigenden Anforderung und dem damit verbundenen Ziel bestimmt.
Man kann sich das Arbeitsgedächtnis als ein flexibles Beleuchtungskonzept vorstellen, mit mehreren dimmbaren Glühbirnen. Die maximale Helligkeit (die der Arbeitsspeicherkapazität entspricht) ist vorgegeben und kann entweder auf viele oder auf wenige Glühbirnen verteilt werden. Entsprechend variiert die Helligkeit der einzelnen Glühbirnen. Ist man gerade sehr fokussiert, leuchten nur wenige Glühbirnen sehr hell, lässt man den Geist wandern, leuchten viele Glühbirnen stark gedimmt. Information, die für ein Unterziel erst zu einem späteren Zeitpunkt benötigt wird, entspricht einer gedimmten Glühlampe. Erlischt eine Glühlampe, welche eine noch benötigte Informationseinheit repräsentiert, wird die Anforderung nicht angemessen bewältigt.
Wenn wir bei dieser – stark vereinfachenden – Analogie bleiben, dann zeigt sich das Ausmaß von geistiger Leistungsfähigkeit zum einen in der zur Verfügung stehenden maximalen Helligkeit und zum anderen in der Geschwindigkeit, in der die Beleuchtungsstärke variiert werden kann. Menschen unterscheiden sich in der Kapazität, der Flexibilität und der Geschwindigkeit, mit der sie Information verarbeiten können. Im folgenden Kapitel (
Kap. 2.4.3) geht es zunächst um die Frage, wie man durch Lernen die Effizienz des Arbeitsgedächtnisses steigern kann.
2.4.3 Lernen als Verdichtung von Wissen: Chunking und Prozeduralisierung
Lernen ganz allgemein, insbesondere auch schulisches Lernen, heißt, die bestehende Wissensbasis so zu verändern, dass eine bessere Anpassung an die Erfordernisse der Umgebung ermöglicht wird. In diesem Kapitel soll gezeigt werden, dass es von der Repräsentation des Wissens im Langzeitgedächtnis abhängt, wie effizient die Arbeitsgedächtnisfunktionen für das Lernen und Problemlösen genutzt werden. Die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses ist zwar begrenzt, aber wenn Wissen effizient im Langzeitgedächtnis gespeichert ist, können im gleichen Zeitraum größere Mengen aktiviert werden; man kann dann, salopp gesagt, schneller denken. Dies setzt allerdings vorangegangene Lernprozesse voraus, in denen Wissen durch wiederholte Aktivierung verdichtet wird.
Verdichtung entsteht zunächst einmal durch Chunking (Bündelung) von Information. Einzelne Wissenselemente werden zu übergeordneten Einheiten zusammengefasst. Ein Beispiel: Wer die Ziffern 91119893101990 hört, wird sich diese kaum auf Anhieb merken können. Im Allgemeinen kann ein Mensch nur sieben bis neun Ziffern spontan im Arbeitsgedächtnis halten. Ergänzt man die Zahlenreihe hingegen mit Punkten, sieht man, dass es sich bei den Ziffern um zwei wichtige Daten der jüngsten deutschen Geschichte handelt, nämlich den Tag des Mauerfalls in Berlin und den Tag der deutschen Wiedervereinigung. Dann kann man die Zahlenreihe problemlos noch Jahre später reproduzieren: 9.11.1989 3.10.1990.
In der Kognitionspsychologie wird diese Vergrößerung der Gedächtniskapazität durch Komprimierung des Wissens als Chunking (Bündelung) bezeichnet. Einzelne Reize, die zuvor als eigene Einheiten abgespeichert waren und deshalb einzeln für die Verarbeitung im Arbeitsgedächtnis aktiviert werden mussten, werden durch wiederholte gemeinsame Aktivierung gleichsam fest zusammengeschweißt. Handlungen rufen sich gegenseitig auf, das Arbeitsgedächtnis wird trotz großer Informationsmengen nur geringfügig belastet.
Bleiben wir bei der schon oben (
Kap. 2.4.2) verwendeten Glühlampenanalogie: Für die Aktivierung einer gebündelten Wissensrepräsentation wird weniger Lichtenergie gebraucht als für die Aktivierung aller einzelnen Elemente. Verdichtung von Wissen durch gemeinsame oder zeitlich benachbart aktivierte Stimulus- und Reaktionselemente spart Arbeitsspeicherkapazität und erlaubt eine schnellere Aktivierung und Deaktivierung von komplexeren Wissens-Netzwerken.
Unserer Fähigkeit zur Bündelung verdanken wir es, dass wir in Sekundenschnelle das Wort Mississippidampfschifffahrtsgesellschaftskapitän lesen können. Geübte Leserinnen und Leser erkennen Buchstaben auf einen Blick und haben so enge Assoziationen zwischen Buchstaben und Lauten aufgebaut, dass beides zusammen aktiviert wird. Ein im Lesen ungeübter Mensch hingegen muss jeden Buchstaben in einen Laut übertragen und daraus mühsam ein Wort konstruieren. Es wird Arbeitsspeicherkapazität gebunden, die für das Sinnverständnis nicht mehr zur Verfügung steht.
Daraus folgt: Aus Texten lernen können nur Menschen, die Buchstabenansammlungen als Wortbilder gespeichert haben, so dass sie das Arbeitsgedächtnis voll für das Inhaltsverständnis nutzen können. Das erfordert zunächst sehr viel Übung. Dabei lernt man, wie bestimmte Buchstabenkombinationen in Laute und Silben und schließlich in Worte umgesetzt werden. Nebenbei werden auch andere Merkmale der Wörter abgespeichert, z. B. der Anfangs- und der Endbuchstabe sowie die Wortlänge. Mit diesen Wissensnetzen ausgestattet, können geübte Leserinnen und Leser problemlos den unten als Zitat dargestellten Text lesen. Ungeübte Leser hingegen können dies nicht. Sie haben die richtig geschriebenen Wörter entweder nicht häufig genug gesehen, oder sie haben sie nicht so detailliert verarbeitet, dass sie die Merkmale zu größeren Einheiten – also Wörtern – gebündelt haben. Sie erkennen dann trotz der Redundanz der Sprache diese bei leichten Abweichungen nicht wieder.
Ehct ksras! Gmäess eneir Sutide eneir Uvinisterät ist es nchit witihcg, in wlecehr Rneflogheie die Bstachuebn in eneim Wort snid, das ezniige, was wcthiig ist, dass der estre und der leztte Bstabchue an der ritihcegn Pstoion snid. Der Rset knan ein ttoaelr Bsinöldn sein, tedztorm knan man ihn onhe Pemoblre lseen. Das ist so, weil wir nicht jeedn Bstachuebn enzelin leesn, snderon das Wort als gzeans enkreenn. Ehct ksras! Das ghet wicklirh! Und dfüar ghneen wir jrhlaeng in die Slhcue!
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