1 ...6 7 8 10 11 12 ...16 Lernen aus Texten setzt das Worterkennen voraus. Müsste man Buchstabe für Buchstabe identifizieren und daraus das Wort konstruieren, würde keine Arbeitsspeicherkapazität für den Inhalt bleiben.
Die Verdichtung von Wissen durch Chunking muss möglichst fehlerfrei erarbeitet werden, wenn man sich geistige Flexibilität erhalten möchte. Das soll am Beispiel der arithmetischen Grundoperationen verdeutlicht werden. Menschen, die nicht über ein gut vernetztes Zahlenwissen verfügen – die also zum Beispiel nicht sofort abrufen können, was die Hälfte von 70 ist oder was 27 plus 5 ergibt –, stehen schon im Alltag schnell vor Problemen. Es ist deshalb wichtig und richtig, dass in der Primarschule viel Zeit auf Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division verwendet wird. Dabei können unterschiedliche Strategien zum Einsatz kommen. Das Ergebnis von 5 + 3 = kann ermittelt werden, indem von Grund auf gezählt wird: 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8. Man kann auch ab 5 aufzählen: 6, 7, 8. Bei jeder Berechnung wird eine Verbindung zwischen 5 + 3 = und 8 hergestellt. Wenn diese Verbindung eine gewisse Assoziationsstärke erreicht hat, wird »8« aktiviert, bevor die Rechenoperation abgeschlossen ist. Es wurde also Wissen so verdichtet, dass die Abrufstrategie zum Tragen kommt.
Multiplikation wird auf ähnliche Weise erworben: Zunächst als wiederholte Addition und später als Faktenabruf. Allerdings wird nicht jede Kombination so ausgiebig geübt, dass sich durch Wiederholung eine Verdichtung einstellt. Deshalb wird das 1 × 1 auswendig gelernt. Allerdings besteht die Gefahr, dass ein unflexibles Faktennetz aufgebaut wird. Zwar wird man auf die Aufgabe »7 × 8 =« wie aus der Pistole geschossen antworten, aber dafür länger für die Frage »Welches Ergebnis ist größer, 6 × 8 = oder 7 × 4 = ?« brauchen. Deshalb sollte die Multiplikation in der Primarschule mit der Ableitungsstrategie geübt werden: 7 × 9 = 7 × 10 – 7 × 1 = ? oder 6 × 8 = 5 × 8 + 1 × 8 = ? Wer auf diese Weise das 1 × 1 lernt, wird bei ausreichender Übung ein Netz an Faktenwissen aufbauen, welches es ermöglicht, jede 1 × 1-Aufgabe durch schnelles Erinnern zu lösen. Gleichzeitig ist das numerische Netzwerk so komplex und flexibel, dass es Verbindungen zu anderen Zahlen und Aufgaben herstellt. 36 ist verbunden mit 6 × 6, 9 × 4, 7 × 5 + 1 usw.
Prozeduralisierung (Automatisierung)
Neben dem Chunking ist auch die Prozeduralisierung, also die Entstehung von weitgehend automatisiertem Handlungswissen, ein wichtiger Prozess beim Aufbau von Wissen. Das prozeduralisierte Wissen kann einer anderen Person nicht ohne weiteres kommuniziert werden, zumindest nicht im Detail. Wir können niemandem das Schreiben oder das Fahrradfahren so genau erklären, dass er es auf Anhieb kann. Diese Aktivitäten werden durch viele kleine aufeinander abgestimmte Handlungsschritte ermöglicht, die sich mit zunehmender Übung nacheinander aufrufen, ohne dass sich das Arbeitsgedächtnis einschalten muss. Man spricht deshalb auch von Automatisierung.
Die Prozeduralisierung von Teilen des Wissens ist in allen Inhaltsbereichen Voraussetzung für höhere geistige Tätigkeiten. Das gilt für Mathematik wie auch für das Lernen von Fremdsprachen. Wer die binomischen Formeln als Muster abgespeichert hat, wird beim Auflösen einer algebraischen Gleichung auf einen Blick erkennen, was man vereinfachen kann. Wer Vokabeln einer Fremdsprache gelernt hat, kann diese mit geringem Aufwand aktivieren und sich bei der Konstruktion eines Satzes auf die Grammatikregeln konzentrieren.
2.4.4 Lernen als Explikation und Vernetzung: Der Aufbau von deklarativem Wissen
Dass wir das geschriebene Wort »Maschine« auf einen Blick erkennen, ist unserer Fähigkeit zum Chunking (
Kap. 2.4.3) geschuldet. Dass wir hingegen anderen Menschen erklären können, was eine Maschine ist, basiert auf deklarativem Wissen. Damit ist in der Kognitionspsychologie eine Wissensart gemeint, die sich in Symbolsysteme wie Sprache, Schrift, Formeln oder Bilder überführen lässt. Den Kern dieses Wissens bilden Begriffe bzw. Konzepte, Beispiele dafür sind »Hund«, »Säugetier«, »Gerechtigkeit«, »Primzahl« oder »Relativitätstheorie«.
Deklaratives Begriffswissen entsteht durch die Verbindung zu anderen Begriffen. Dies können Eigenschaften sein wie z. B. »rot« und »rund« oder aber Begriffe auf der gleichen kategorialen Ebene wie »Ball« und »Teddybär«, die zusammen die Grundlage für Oberbegriffe wie »Spielzeug« bilden können. Aus der Verbindung zwischen Begriffen entstehen Netzwerke, die unterschiedlich umfangreich und verschieden strukturiert sein können. Der passionierte Hundebesitzer wird bei dem Begriff »Hund« sofort den Namen und visuelle Vorstellungen seines Hundes aktivieren, die professionelle Biologin hingegen einen übergeordneten Begriff wie »domestiziertes Säugetier«.
Ein wichtiger Grund für die oft wenig erfolgreiche Kommunikation zwischen Menschen, insbesondere jene zwischen Lehrpersonen und Lernenden, besteht darin, dass zwar die gleichen Wörter verwendet werden, währenddem die konzeptuellen Netzwerke, in die sie eingebettet sind, sehr unterschiedlich sind. So wird das Begriffswissen von so genannten Novizen, also Menschen, die sich in einem Gebiet nur sehr oberflächlich auskennen, zunächst von charakteristischen Oberflächenmerkmalen und nicht von theoriegeleiteten, definitorischen Merkmalen bestimmt. Novizen lassen sich bei der Bildung von Begriffen in erster Linie von ihrer Wahrnehmung leiten. Da Kinder aufgrund fehlender Lerngelegenheiten in den allermeisten Gebieten so genannte universelle Novizen sind, ist bei ihnen besonders häufig eine Konzentration auf charakteristische Oberflächenmerkmale zu beobachten. Dies – und nicht wie von dem berühmten Entwicklungspsychologen Jean Piaget angenommen die fehlende Abstraktionsfähigkeit – ist die Ursache für altersbedingte Unterschiede in der Denkleistung (Stern, 2005).
Jüngere Grundschulkinder bejahen zum Beispiel die Frage, ob ein Haufen Reis, verneinen aber die Frage, ob ein einzelnes Reiskorn etwas wiege. Diese zunächst unverständliche Antwort wird nachvollziehbar, wenn man berücksichtigt, dass jüngere Kinder »Gewicht« und »sich schwer anfühlen« noch miteinander gleichsetzen. Auch dass der Wal ein Säugetier und kein Fisch ist, ist für Kinder schwer zu verstehen, weil sie Tiere zunächst nach ihrem Lebensraum einteilen. Dass die Art der Fortpflanzung – die man im Allgemeinen nicht zu sehen bekommt – ein sinnvolles Kriterium bei der Klassifikation von Tieren sein kann, versteht man erst auf der Grundlage von zusätzlichem und tiefer gehendem biologischen Wissen. Erst wenn ein Verständnis für den theoretischen Hintergrund vorliegt, der die Unterteilung in Säugetiere und Fische notwendig macht, werden nicht mehr charakteristische (lebt im Wasser), sondern definitorische Merkmale (Nachwuchs wird lebend geboren und mit Muttermilch ernährt) zur Unterscheidung herangezogen (Carey, 2000).
Kommen wir auf das Beispiel der Maschine zurück. Kinder schreiben dem Begriff Maschine etwa die charakteristischen Eigenschaften zu, dass diese aus Stahl sei, von einer fossilen oder elektrischen Energiequelle angetrieben werde und Krach mache. Wer hingegen Newtons Axiome verstanden hat, wird das Konzept der Maschine in den Kontext der Mechanik einordnen und somit nicht das Arbeitsgedächtnis mit Begriffen wie Metall, Lärm oder Bewegung belasten. Vielmehr wird diese Person eine Maschine als ein Werkzeug verstehen, das zur Umwandlung einer Kraft dient, um diese möglichst zweckmäßig zur Verrichtung von Arbeit einzusetzen. Auch wenn die Person bisher nicht darüber nachgedacht hat, dass auch eine simple Holzschraube eine Maschine sein kann, wird sie die Frage »Ist eine Schraube eine Maschine?« mit »ja« beantworten. Ein nach definitorischen Merkmalen und in einen Theoriekontext eingebettetes Begriffsnetzwerk optimiert die Nutzung der Arbeitsgedächtnisfunktionen und damit unser Denken in gleicher Weise wie Prozeduralisierung und Chunking.
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