Alle schauten zu Andrew mit der Ansicht, dass es seine Entscheidung war, die Entschuldigung zu akzeptieren oder nicht. Selbst Nat, die ihn am besten kannte, war sich nicht sicher, wie ihr Freund reagieren würde. Er war erschöpft und hatte vermutlich auch Schmerzen. Zu behaupten, dass er nicht in Bestform sei, war die Untertreibung des Jahres.
Andrew schwieg für einen Moment und lächelte schließlich. »Entschuldigung angenommen. Das hier ist schon hart genug, ohne dass wir uns gegenseitig an die Gurgel gehen. Und du bist tatsächlich ein wertvolles Mitglied des Teams, solange du aufhören kannst, ein Arschloch zu sein.«
Nat hielt den Atem an, aber Steven trat vor, um Andrews Hand zu schütteln. »Abgemacht. Und ich war ernsthaft besorgt um dich, auch wenn es nicht ganz so rüberkam. Wir sollten sichergehen, dass du die nötigen Nährstoffe bekommst. Sonst kann das bei den Temperaturen und der Höhenlage ziemlich gefährlich für dich werden.«
»Schon okay. Ich bin nicht wirklich Vegetarier. Ich hab das nur gesagt, damit du Joe und Anubha in Ruhe lässt.«
»Wow, ich war wohl wirklich ein Arschloch.«
Igor klopfte dem Bergsteiger auf die Schulter und Nat fiel auf, dass Steven sich kein Stück dabei rührte. Zum Glück war es nicht zu physischer Auseinandersetzung gekommen. Sie war sich nicht mehr sicher, ob der Russe gewonnen hätte. »Ja, das warst du, aber das ist vorbei. Jetzt wir essen Plastik-Nudeln, ja?«
Die Gruppe lachte und Nat beobachtete, wie sich die gespannte Atmosphäre auflöste wie eine Wolke, die sich über sie gelegt hatte. Sie nahm sich vor, beim Essen neben Steven zu sitzen und herauszubekommen, was ihn so unter Druck setzte. Auch wenn er ihr nicht ganz geheuer war, war es doch ihr Job, sich um solche Dinge zu kümmern.
Lana war jedoch schneller als sie. »Was beschäftigt dich, Steven? Können wir irgendwie helfen?«
Er schüttelte den Kopf. »Ihr lacht mich nur aus, wenn ich’s sage.«
»Nein, werden wir nicht.« Lanas Beharrlichkeit wurde vom beipflichtenden Murmeln der anderen begleitet. »Was ist los?«
»Wie viel wisst ihr eigentlich über die Djatlov-Gruppe? Ich meine, was wisst ihr wirklich ?« Steven schritt neben dem Feuer auf und ab, sah jeden von ihnen an.
Joe zuckte mit den Schultern. »Ich kenne die wesentlichen Fakten. Neun russische Skifahrer sind hier verloren gegangen und ein Suchteam hat ein oder zwei Wochen später die Leichen gefunden. Bis heute weiß niemand genau, wie sie gestorben sind, manche glauben, es war eine Lawine.«
»Die Lawinentheorie macht überhaupt keinen Sinn. Es war weder die richtige Zeit noch der richtige Ort dafür. Außerdem gab es keine Spuren einer Lawine, wie sie am Zelt oder Lagerplatz zu erwarten gewesen wären«, sagte Lana.
Steven nickte. »Sie hat recht. Kennt jemand ein paar der anderen Theorien?«
»Für uns Russen das sein eine große Sache. Ich glaube, ich sie alle gehört haben.« Igor zählte sie an seinen Fingern ab. »Waffentests, Regierungsverschwörung, UFOs, Wildtiere, der Wind um den Berg hat sie verrückt spielen lassen, die Mansen …« Er senkte seinen Kopf in Wasilis Richtung, der ausdruckslos zuhörte. »Entschuldige.«
»Gar nicht schlecht. Aber du hast eine vergessen. Fällt dir ein, welche es ist?«
»War das nicht Bigfoot oder so was?«, fragte Anubha und Igor kicherte.
»Oh ja, Bigfoot. Den ich habe vergessen.«
»Dicht dran. Nicht Bigfoot, sondern der Yeti. Auch als Schneemensch bekannt.« Von allen war Steven der Einzige, der nicht schmunzelte, aber Nat war das bereits gewohnt.
»So lächerlich.« Anubha rollte mit den Augen. »Aliens? Bigfoot? Sorry, Yetis. Wer soll das glauben?«
»Ich zum Beispiel«, sagte Steven. In der darauffolgenden Stille hätte man eine Schneeflocke fallen hören können.
»Du machst Witze, oder?«, fragte Joe, aber Nat wusste, dass dem nicht so war. Das Gesicht des Bergsteigers war so ernst, es hätte in Stein gemeißelt sein können.
»Ich hab ja gesagt, dass ihr lachen würdet.«
»Wir lachen nicht, Steven. Es ist unerwartet, das ist alles. Du wirkst sonst so …« Lana verstummte.
»Was, vernünftig? Zurechnungsfähig?«
»Ernst ist, was ich sagen wollte.«
»Ich meine es ernst. Was ich glaube, schließt das nicht aus.«
»Also, an was glaubst du? UFOs, Yetis oder alles zusammen?«, fragte Andrew.
»Zu UFOs kann ich nichts sagen, aber ich finde, es ist ziemlich egozentrisch von uns, zu glauben, dass es keine anderen Planeten mit intelligentem Leben gibt – und ich benutze intelligent sehr großzügig an dieser Stelle. Aber das ist ja nicht anders zu erwarten, nicht wahr? Menschen sind nun mal sehr ich-bezogen. Wir haben nur uns selbst im Sinn.«
Und mit einem Mal war Steven wieder die gute, alte Frohnatur, die sie kennen und lieben gelernt hatten. »Was für ein aufmunternder Gedanke.«
Er nagelte sie mit seinem verstörend intensiven Blick fest. »Nein, Nat, es ist total deprimierend. Aber es ist deswegen nicht weniger wahr.«
»Also Yetis. Daran glaubst du?«, fragte Igor.
»Ja, aber lasst mich ausreden. Ich habe meine Gründe. Vor ein paar Jahren war ich im Six Rivers National Forest wandern, an der Grenze zu Oregon. Wie üblich war ich allein, was mich nicht stört. Tatsächlich ist mir das sogar lieber.«
Es war schwer, nicht die Augen zu verdrehen. Was für eine Überraschung.
»Na, zumindest brauchte ich nicht lange, um festzustellen, dass ich nicht allein war. Irgendetwas verfolgte mich. Zuerst habe ich gedacht, es wäre ein Tier, aber es schien zu intelligent zu sein. Was auch immer mich verfolgt hat, konnte kritisch denken. Und es hatte Daumen.«
»Was?«, rief Lana. »Wie hast du das denn rausbekommen?«
»Ich habe nachts meine Vorräte in die Bäume gehängt, in einem Netz, und als ich aufgewacht bin, war mein Rucksack durchwühlt und sämtliches Essen, das nicht in Dosen war, war weg. Hier kommt der eigenartige Teil – was auch immer mein Zeug durchwühlte, hat das Netz losgebunden und meinen Rucksack geöffnet, ohne ihn zu beschädigen oder mich wachzumachen. Welches wilde Tier ist zu so etwas fähig?«
»Also war es ein Mensch«, sagte Andrew und äußerte dabei Nats eigene Gedanken.
»Das hatte ich auch gedacht, also habe ich in der nächsten Nacht eine Kamera aufgestellt. Und glaubt mir, was am nächsten Morgen zu sehen war … war kein Mensch.«
Nat lief ein Schauer über den Rücken. Arschloch oder nicht, der Mann konnte Geschichten erzählen.
»Willst du sagen damit, du hast Bigfoot auf Video?«, fragte Igor, dessen Augenbrauen unter seiner Fleece-Mütze verschwanden.
»In der Tat. Ich vermutete einen Schwindel, irgendein Scherzkeks im Affenkostüm, der die Wanderer beklaut, also hab ich die Aufnahmen ein paar Videoproduktionstypen gezeigt, die ich kannte. Dann hab ich sie Zoologen vorgeführt. Sie haben es alle bestätigt. Kein Schwindel.«
»Aber wenn du echte Aufnahmen von Bigfoot hast, das wäre unbezahlbar«, sagte Nat. »Du könntest berühmt sein.«
»Diese Art von Ruhm möchte ich nicht.«
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