1 ...6 7 8 10 11 12 ...17 Die unterschiedlichen Sichtweisen vor und nach den Anschlägen des 11. September 2001 lassen sich zum Teil aus der zur Verfügung stehenden Datenlage erklären: Thomas R. Mockaitis weist in seinem Buch aus dem Jahr 2008 daraufhin, dass in den neunziger Jahren die Anzahl der Anschläge insgesamt im Vergleich zu den Anschlägen der achtziger Jahren abgenommen hatte. Die Zahl der Verletzten und Todesopfer war dagegen zwar gestiegen, aber nur in einem geringen Maß. Er entnahm die Zahlen der Terrorism Knowledge Database (TKB), deren Daten durch die RAND Corporation zur Verfügung gestellt wurden. 45Da Bruce Hoffman in den Jahren 1998 bis 2006 Direktor der RAND Corporation war, kann davon ausgegangen werden, dass er zum damaligen Zeitpunkt aus derselben Datenbank seine Erkenntnisse speiste. Die Entwicklung der Anschläge in den neunziger Jahren bzw. die damaligen zur Verfügung stehenden Daten über terroristische Anschläge erklären die Fokussierung auf die Religion als zentralen Kern der Entwicklung des Terrorismus. Signifikanter als die Anzahl der Anschläge oder die Entwicklung der Opferzahlen war der Anteil der Opfer, die durch religiöse terroristische Organisationen verletzt wurden oder starben. Dieser Anteil lag in dieser Quelle in den achtziger Jahren bei 27% und in den neunziger Jahren bereits bei 50%. 46
Nicht nur Bruce Hoffman, sondern auch andere führende Autoren auf dem Gebiet der Terrorismusforschung hielten in den neunziger Jahren die Religion für die treibende Kraft und den Mittelpunkt des Neuen Terrorismus. Besonders bei islamistischen Organisationen, aber auch bei einigen rechten Kräften, die sich in den neunziger Jahren vor allem in den USA formierten, wurde eine apokalyptische und millenarisch religiöse Ideologie als zukünftige Bedrohung gesehen. 47Die massenhafte Tötung, besonders durch die Benutzung von Massenvernichtungswaffen, konnten sich auch die anderen Autoren höchstens in Verbindung mit diesen religiösen terroristischen Organisationen vorstellen. Trotz des Sarin-Gas Anschlags am 20.03.1995 auf die U-Bahn in Tokyo durch die religiöse Sekte Aum Shinrikyo, erschienen die konventionelle Bombe und die Handfeuerwaffen einigen Autoren zu diesem Zeitpunkt immer noch als das Mittel der Wahl von „rationalen“ terroristischen Organisationen. Die Massenvernichtungswaffen galten nur als Ausnahmeerscheinung, die zwar in Zukunft vorkommen konnte, was aber weniger vermutet wurde. 48Walter Laqueur beschäftigte sich in seinem Buch The New Terrorism – Fanaticism and the Arms of Mass Destruction 49zwar in einem Kapitel ausführlich mit dem Thema Massenvernichtungswaffen, zweifelte aber vor allem den Einsatz von biologischen und nuklearen Massenvernichtungswaffen an. Interesse an diesen Waffen unterstellt er vor allem „the fanatic, the disgruntled, and the mentally unbalanced“. 50Auch Bruce Hoffman setzte sich 1999 in einem Artikel nochmals ausführlich mit dem Thema Massenvernichtungswaffen auseinander. Dabei kam er zu dem Schluss, dass einige der damaligen terroristischen Organisationen Eigenschaften aufwiesen, die in Kombination mit den äußeren Bedingungen den Einsatz theoretisch möglich machen würden. Er schloss jedoch erneut mit der Anmerkung, dass es sich um ein sehr unwahrscheinliches Szenario handle und Überreaktionen zu vermeiden wären. 51
Dass sich die Autoren nach den Anschlägen auf die U-Bahn in Tokyo 1995 zumindest ausführlich mit den Thema auseinandersetzten, passt zu der Vermutung von Martha Crenshaw, dass „… the study of terrorism and counterterrorism policy have been event-driven.“ 52Der Versuch von Aum Shinrikyo, mithilfe von chemischen Kampfmitteln eine große Masse von Menschen zu töten, blieb jedoch nur ein missglückter Versuch mit relativ wenigen Opfern. 53Wäre der Versuch gelungen, wäre der psychologische Schaden wesentlich größer gewesen, und die Wahrnehmung des Gefahrenpotentials von Massenvernichtungswaffen wäre vermutlich schon zu diesem Zeitpunkt vergleichbar zu der nach den Anschlägen des 11. September 2001 gewesen. 54
Dem Erklärungsmuster, dass Forschungsfelder durch spezielle Vorfälle ausgelöst werden, steht die Entwicklung einer weiteren vorhergesagten Veränderung entgegen: der Cyberterrorismus als zukünftige Bedrohung im Bereich des Terrorismus. Obwohl es bis zu diesem Zeitpunkt keinen aufsehenerregenden terroristischen Anschlag durch Cyberterroristen gab, hielt Walter Laqueur bereits 1996 die Bedrohung durch den Cyberterrorismus für wesentlich größer als die Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen. Er sah das Potential in einer Zerstörungskraft, die einen größeren Schaden verursachen könnte, als dies durch direkte physische Gewalt jemals möglich wäre, mit den Folgen einer größeren Panik und wesentlich mehr Opfern. Die Abhängigkeit der Gesellschaft von der Technik, die sich mit der Entwicklung des Internets verstärkt hatte, würde an dieser Stelle eine Tür für terroristische Organisationen öffnen, sobald sie ihre Anstrengungen in diese Richtung leiten würden. 55Neben den inzwischen zur Normalität gewordenen Vorteilen des Internets, die terroristische Organisationen inzwischen nutzen, wie den Informationserwerb, Informationsaustausch, Koordinierung, Planung, Rekrutierung, Ausbildung und Kommunikation untereinander und mit der Öffentlichkeit 56, sprach Walter Laqueur vor allem von direkten Angriffen durch Computerviren und Schadsoftwaren auf eine unendliche Auswahl von Zielen. Er zählte in seinem Buch „Weapons of Mass Destruction“ den Cyberterrorismus zu den vier großen Massenvernichtungswaffen neben biologischen, chemischen und nuklearen/radiologischen Kampfstoffen. 57Ähnlich sah dies auch Kai Hirschmann: „WMD Terrorism might occur via sinlge incidents but will not play a major role. Cyberterrorism, in turn, must be expected to become very important.“ 58Er verweist auf die Vorteile des Cyberterrorismus, die diesen als potentielle zukünftige Bedrohung ausweisen: Durch die weite physische Entfernung zu den Anschlägen können die Terroristen leichter anonym bleiben, die Gefahr der eigenen physischen Gefährdung sinkt. Mit relativ billigen Mitteln lassen sich große Schäden verursachen, die bei Gelingen große Aufmerksamkeit erreichen können. Die Aufmerksamkeit und der psychologische Effekt auf die Opfer und die Bevölkerung treten jedoch erst ein, wenn der Schaden sichtbar wird. Es ist jedoch durch die Komplexität der Systeme schwierig, erfolgreich einen Schaden anzurichten. 59Gegen Cyberangriffe spricht, dass erfolgreiche Anschläge das Internet als Ort des Geschehens sichtbar machen und so zu einer verschärften Überwachung führen. Damit würden terroristische Organisationen ihre wichtigste neue Basis zur Information, Koordinierung, Planung, Rekrutierung, Ausbildung und Kommunikation gefährden. 60Auch dass es bis heute keinen bekannten, erfolgreichen Anschlag durch Cyberterrorismus gibt, mag dazu beigetragen haben, dass sich das Thema im Rahmen dieser Debatte nicht weiter entwickelt hat. 61
Weitere Schlagwörter bei der Unterscheidung zwischen Altem Terrorismus und Neuen Terrorismus, die bis zum 11. September 2001 zur Diskussion standen, sich aber in dieser Art nicht weiter durchsetzen konnten, bezogen sich auf die Zusammensetzung der terroristischen Organisationen. Bruce Hoffman beschrieb einen Wandel von hauptberuflichen, professionellen Terroristen, die ihre gesamte Zeit und ihren vollen Einsatz in der terroristischen Organisation einbringen, wie dies die Mitglieder der RAF taten, hin zu einem „Amateurterrorismus“. Während die alten terroristischen Organisationen nahezu vollständig aus diesen ganztags, professionellen Terroristen bestünden, sei dies bei neuen terroristischen Organisationen nur noch teilweise der Fall. Dies erklärte er als Folge der medialen Entwicklung: Durch das Internet war es für fast jeden möglich geworden, sich über Methoden, wie den Bau einer Bombe, zu informieren, während früher die Befähigung zum Terroristen in Trainingscamps erlernt werden musste, was zeitaufwendig war und sich deshalb wenig mit einem normalen Leben kombinieren ließ. Die wachsende Anzahl von Amateurterroristen machte er unter anderem mitverantwortlich für die wachsende Gewalttätigkeit des Neuen Terrorismus, da ihnen die zentrale Kontrolle durch eine Autorität fehlt. 62
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