Versuch einer Ethik
im Zeitalter globaler Bedrohung
Richard Bletschacher
Mit freundlicher Unterstützung
Richard Bletschacher: Versuch einer Ethik im Zeitalter globaler Bedrohung
Hollitzer Verlag, Wien, 2021
Coverbild: Richard Bletschacher
Selbstporträt
: Richard Bletschacher
Covergestaltung
und Satz: Nikola Stevanović
Hergestellt in der EU
Alle Rechte vorbehalten
© Hollitzer Verlag, 2021
www.hollitzer.at
ISBN Druckausgabe: 978-3-99012-924-1
ISBN epub: 978-3-99012-925-8
Vorausbemerkung
Einleitung
Zur Definition des Begriffs
Der Wurzelgrund der Ethik
Ein kurzer Rückblick auf die Geschichte der Ethik
Was ist das Böse?
Was ist das Gute?
Die Quelle der Tradition
Die Quelle der Religionen
Die Quelle des kritischen Geistes
Die Quelle des menschlichen Gewissens
Das Schöne als Schwester des Guten
Sexualität und Moral
Die Tugenden
Die Gerechtigkeit
Die Tapferkeit
Die Pflichterfüllung
Wahrhaftigkeit und Lüge
Die Barmherzigkeit
Scham und Schande
Das Edle
Schlussbetrachtung
Ausblick
Als ich es vor zehn oder zwölf Jahren, mehr um mich selbst als um andere zu belehren, unternahm, an einem Text über das Thema dieses Buches zu schreiben, dachte ich, er würde die Form eines Essays annehmen. Nachdem ich damit aber nicht so bald zu einem Ende kommen konnte, musste ich erkennen, dass man sich nicht raschen und leichten Sinnes an eine der großen Fragen heranwagen soll, um die sich gute Köpfe seit Jahrhunderten, ja gar Jahrtausenden mühten, der Frage nämlich, die in schlichten Worten lautet: „Wie soll ich leben?“ Und so sehr ich Sorge trug, mich eng an die Sache zu halten, und so sehr ich all die lockenden Umwege mied, die allzu weit ins Allgemeine hätten führen können, so wuchs doch der Text von Jahr zu Jahr, so dass ich bald den Gedanken an eine Veröffentlichung mied und nur mehr weiter schrieb, um mich selbst zu erforschen. Was etwa den Umfang von einem Dutzend Seiten hätte annehmen sollen, wuchs mir unversehens unter den Händen – oft unterbrochen und neu begonnen – zu einem Text von nunmehr vielfacher Länge. Auch wenn ich zu Beginn das Interesse aller Nachdenklichen an einer Antwort auf die aufgeführte Frage sehr wohl erhoffte, sollte diese nun durch die Ereignisse ab Februar 2020 eine neue Dringlichkeit erhalten. Der Ausbruch einer Seuche, die viele Hunderttausende von Toten fordern würde, schien nicht vorhersehbar gewesen zu sein. Heute wissen wir es besser. Diesem und manchem anderen Geschehnis hätten wir zur rechten Zeit vielleicht vorbeugen oder es zumindest eingrenzen können. Aber durch bessere Erkenntnisse belehrt sollten wir immer wieder ähnliches Unheil befürchten, wie es auch in der überblickbaren Geschichte unsere Vorfahren vielfach betroffen hat.
Zu allen Zeiten gab es Menschen, die glaubten, über die Taten und Gedanken jener, die vor ihnen gelebt hatten, urteilen zu können, deren Werke zu zerstören, deren Denkmäler zu stürzen und deren Schriften verbrennen zu können. Sie beriefen sich auf ihre Überzeugungen von der Wahrheit ihres Wissens und der Gerechtigkeit ihres Tuns. Es hat sich jedoch, oft bald, oft erst nach Jahrhunderten, erwiesen, dass ihre Gewissheiten zerfielen. Auch heute gibt es Beispiele dafür, Beispiele von dieser zerstörerischen Hybris der Selbstüberhebung. Darum sollten wir uns stets aufs Neue belehren lassen: Was immer Menschen tun und lassen, wird von anderen Menschen abgetan. Und so haben unsere eigenen Weisungen, wie wir zu leben und zu handeln hätten, eine Zeit, in der sie gelten mögen und eine andere Zeit, in der wir meinen, die Welt geordnet zu haben und darüber selbst zerfallen sind.
Würden wir aber aufmerksamer und verständiger die Werke vergangener Generationen betrachten und achtsamer um uns in die belebte Natur blicken, so könnten wir hoffen, weiterhin das Glück des Daseins unter unseresgleichen inmitten der Wunder dieser Erde zu genießen, und würden manches schaffen, das unserem Leben einen höheren Sinn verleihen könnte als den des bloßen Überdauerns.
Dass ich dieses Buch, wie manche meiner vorher geschriebenen, obwohl ein jedes Wort darin von mir ist, nicht allein verfasst habe, muss ich zu allem Anfang bekennen. Viele der Menschen, deren Kenntnisse mich belehrt und deren Hände mich geführt haben, werde ich im weiteren Verlauf bei Namen nennen. Andere haben mir, oft auf Umwegen, geholfen, ohne dass ich immer auf ihre Reden und Schriften, verweisen könnte. Mein Wissen verdanke ich ihnen allen und ich hoffe durch meine Arbeiten etwas von dem weiterzureichen, was ich selbst empfangen habe.
Michel de Montaigne, der Lebenskluge und einer dieser Lehrer und Helfer unter den Alten, hat sich ein Buch gewünscht, in welchem die moralischen Lehren der Alten einer Beschreibung von deren Lebensführung auf jeweils zwei Seiten gegenübergestellt würden. Aber man wusste wohl schon lange vor Montaigne und weiß es noch heute, dass ein Mensch, der es auf sich nimmt, andere an seinen Erkenntnissen teilhaben zu lassen, den eigenen Forderungen, bedrängt von Trieben seines Inneren und Zwängen des gemeinschaftlichen Lebens, nicht in allem gerecht werden kann. Wer sich große Mühe gegeben hat, auf den rechten Weg zu finden, mag als ein Suchender nicht immer gewusst haben, was an all den Krümmungen und Kreuzungen seines Weges zu tun sei. Immer jedoch darf er sich, wie vom Dämon des Sokrates geleitet, gewarnt fühlen vor dem, was er zu lassen habe. Wir mögen einander stets aufs Neue belehren über das Schreckliche, das geschehen ist durch Unseresgleichen. Mehr jedoch ist zu wünschen, dass wir wieder Halt aneinander suchen, zumal in den Zeiten einer Pandemie, um uns vor diesem und noch größeren Übeln zu bewahren, die drohen in der Zukunft über uns zu kommen.
Nun wird man mir zugestehen, dass ich diesen Text keinen Traktat zur Belehrung oder gar Maßregelung meiner Mitmenschen nennen will, sondern nur eben eine Untersuchung am lebenden und leidenden Objekt und eine Suche nach einem Pfad zu besserem gemeinsamen Leben. Denn, dass die Welt trotz aller Wundertaten der Technik im Argen liegt und unter unserem oft ebenso achtlosen wie gewalttätigen Zugriff in ihrer Existenz bedroht ist, daran wird kein Hellsichtiger zweifeln.
Wenn das Schrifttum eine Sendung hat, so kann es die sein, den Selbstmord der Menschheit zu verhindern.
(Johannes Urzidil)
Wer eine befriedigende moderne Ethik der menschlichen Beziehungen schreiben will, muss vor allem die notwendigen Begrenzungen menschlicher Macht über die außermenschliche Umwelt und die wünschenswerten Einschränkungen der Macht der Menschen übereinander erkennen.
(Bertrand Russel)
Es ist das große und, wie es scheint, nicht enden wollende Bestreben des menschlichen Denkens, sich zu fragen, wie wir auf unserem Weg durch die Wirrnisse dieser Welt vorangehen und handeln sollen, wohin wir gelangen sollen und was wir hoffen dürfen zu erreichen. Die Antwortversuche auf diese Frage sind ohne Zahl, denn die für unser aller Dasein fruchtbringendsten Zweige des viel verästelten Fragebaumes unseres Geistes sind die, die sich nach Erkenntnis recken, nach Auskunft über die Entstehung des Lebens, um es zu erhalten, nach den Bedingungen unseres Handelns und nach dem, was uns in Zukunft beschieden sein mag. Es gibt nicht wenige, die meinen, es sei das Beste, auf den Erfindungsgeist des Menschen zu vertrauen und uns nur irgendwie mit dem zu behelfen was geschieht. Das mag in Zeiten und Kulturen hingegangen sein, in denen man im ererbten Haus nach der Sitte der Altvorderen lebte und im Übrigen den Göttern oder einem aus ihren Reihen Gesandten das Amt überlassen hatte, die Welt zu lenken. Seit aber rings um uns so viele, mündig geworden, sich nicht weiter lenken lassen wollen und den Anspruch erheben, in Belangen der allgemeinen Wohlfahrt selbst das Wort zu ergreifen, seit ein jeder sich müht, es dabei dem anderen zuvorzutun, haben sich im Gestrüpp dieses wild wachsenden Treibens und Zerrens die Meinungen, Urteile und Erwartungen vielfach neu gebildet.
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