Diese und andere neu erwachsene Bedrohungen machen es erklärbar, warum an vielen Orten Versuche unternommen werden, für all die bisher nicht geahnten Möglichkeiten menschlichen Handelns neue Bedingungen, Wege und Grenzen zu erforschen; denn darin sind sich nun alle Kulturen einig: Nicht alles, was machbar erscheint, darf auch gemacht werden, wenn wir und unsere Nachkommen auf dieser Erde überleben wollen. Die Zivilgesellschaft muss sich erheben im Namen eines ethischen Gewissens, um den politischen und wirtschaftlichen Machthabern in die zerstörenden Arme zu fallen. Die verborgenen lebensfeindlichen Mächte des Geldes müssen namhaft gemacht und ans Licht gezogen werden. Wenn keine Justiz sie wirklich belangen kann, muss die allgemeine Verachtung Rechenschaft von ihnen fordern. Dies ist die Aufgabe einer neu zu vereinbarenden Ethik.
Was unserem Überleben dienlich oder schädlich und darum geboten oder verwerflich sei, meint ein jeder ohne viel Zaudern zu wissen. Fragt man ihn aber, ob er meine, diese Unterscheidung werde nicht nur hierzulande erkannt, sondern auch in fremden oder gar feindlichen Ländern, wird er zu zweifeln beginnen; und fragt man, ob bei den Alten dasselbe Urteil gegolten habe, bei den Kreuzfahrern, den Ketzern, den Hindus, den Malaien, den Indianern, wird er dies entschieden verneinen. Und gar, wenn auf die Zukünftigen die Rede kommt, auf unsere Kinder und Enkel, wird er mit Gewissheit fordern, dass sich vieles bis heute hoch Gehaltenes wird ändern müssen, um auch für diese noch gut und gerecht zu sein.
Das Denken vom Guten, als welches die Ethik mit einem kurzen Wort benannt werden kann, bekommt das, worauf es abzielt, nie so recht zu fassen. Immer entwischt, wenn man einen Teil von der Sache meint ergriffen zu haben, ein anderer Teil. Manches, was gestern nützlich schien, erweist sich heute als schädlich. Und manches planen wir heute in der frommen Absicht zu helfen und bringen Unheil über unsere Nachkommen morgen. Wenn im Altertum der besitzenden Klasse jede Arbeit von der Sitte untersagt war, so kam darauf eine Zeit, in welcher Arbeit den Menschen adelte. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen, schrieb der Apostel Paulus und so pflegte man noch im vergangenen Jahrhundert zu sagen. Heute denkt man darüber nach, an alle, ohne genau definierte Gegenleistung, ein auskömmliches Grundeinkommen zu verteilen, und hat gute Gründe dafür, da man fürchten muss, dass allzu viel Arbeit die Erde zerstören könnte. So ändern sich die Zeiten und unsere Überzeugungen sich mit ihnen.
Auch wenn wir bestimmen sollen, für wen und wem gegenüber unsere Vereinbarungen nun zu gelten haben, ob allein für die Menschen oder auch gegenüber den Primaten, den Säugetieren, den Tieren der Luft oder des Meeres oder gar den Würmern und Termiten, so wird manch einer spätestens bei den zwar lebendigen und auch nicht fühllosen Pflanzen sich weigern, ein jedes Lebewesen für ein Subjekt der Ethik anzuerkennen. Da alles Leben sich allein durch Fressen und Gefressenwerden von Lebendigem erhält, muss in einem jeden, ob verborgen oder offen zutage tretend, sowohl die Angst vor dem möglicherweise gefahrdrohenden Fremden als auch der Trieb zu töten und zu verschlingen angelegt sein, denn ein jedes will sich seines Lebens erwehren und sich am Überleben zu halten suchen. Das aber kann, ohne ein anderes hintan zu setzen oder gar zu verletzen, nicht gelingen. Eine objektive Moral, die Geltung beanspruchen dürfte außerhalb der menschlichen Gemeinschaft, ist darum ebenso wenig zu statuieren wie eine objektive Wahrheit oder Gerechtigkeit in allen irdischen Dingen. Misstrauen ist anzuraten gegenüber allen, die behaupten zu wissen was für alle Lebenden und was zu allen Zeiten gut und böse sei. Andererseits widerstrebt es uns als denkende Wesen, uns mit dem zufrieden zu geben, was einige leichtfertig als situative Ethik benennen. Das will vermutlich eine Ethik meinen, die sich den jeweiligen Verhältnissen anpasst, denen sich der Handelnde gegenübersieht. So wenig man die Freiheit des Menschen beschneiden will, so sehr fühlt man doch, dass ihr Grenzen gesetzt werden müssen dort, wo sie die Freiheit oder das Leben anderer Lebewesen gefährdet. Und so leben wir in immer erneuerter Hoffnung, es müssten die Postulate einer allgemeineren, umfassenderen Ethik, wenn schon nicht für immer und überall, so doch über längere Zeiten und weit gedehnte Grenzen hinweg zu finden sein, mit dem utopischen Ziel, dass endlich Frieden herrsche auf Erden. – Und doch wissen wir, dass dieser, so wie ihn einst die Mythen erträumten, nicht erreichbar sein wird. Man gerät mit derlei Ausfahrten der Hoffnung sehr bald in stürmische oder in seichte Gewässer und in die Gefahr auf Klippen oder auf Sand zu laufen.
Seit Jahrzehnten schon ist viel Gerede um eine gerechtere Weltordnung in allen Gazetten, öffentlichen Diskursen und Kongressen. Man wird sich mühen müssen, den Schaum des Geschwätzes abzuwehren, um der Sache auf den Grund zu kommen. Wenn hier nun nachgedacht und dem Gedachten nachgeschrieben werden soll, über das, was Menschen unterschiedlicher Rassen, Religionen, Nationen oder Kulturen gemeinsam als gut oder böse erscheint, so ist voraus zu bemerken, dass zwar alle aus solchen Festlegungen sich erhebenden Forderungen oder Zurückweisungen sich immer nur an die wenigen wenden, die Ohren haben um zu hören und Augen um zu lesen. Andererseits aber haben seit unvordenklichen Zeiten sehr wohl Familien, Gruppen, Gemeinschaften, Völker sich untereinander besprochen und Verantwortung übernommen für andere, indem sie einander unterwiesen, Unterstützung gewährt oder verweigert haben oder indem sie einander entgegengetreten sind. Denn manches – und dies gilt für die jüngst vergangenen Jahrhunderte mehr als für alle zuvor –, ist im Namen vieler geschehen und hat die Verantwortung des einzelnen Menschen weit überstiegen. Und manches von solchem nicht mehr zu Verantwortenden kann, ohne dass wir es ahnen, unabsehbare Folgen haben für ferne Generationen und endlich sogar für alles Leben auf unserer Erde.
Im Gegensatz zu vergangenen Jahrhunderten wurden von Staaten und Industriekonzernen Waffen entwickelt, die eine so große Vernichtungskraft besitzen, dass ihre zerstörende Wirkung nicht mehr allein gezielt auf einzelne Gegner gerichtet werden kann, sondern dass ein weites belebtes Umfeld von ihr betroffen wird. Man hat den zynischen Begriff des Kollateralschadens geprägt, der bei einer notwendigen Operation nolens volens in Kauf genommen werden müsse. Die Erfindung des Dynamits im Jahre 1867 hat diese Entwicklung entscheidend befördert. Dass der Erfinder dieses lebensfeindlichen Sprengstoffs mit dem dadurch verdienten Geld eine Stiftung dotiert hat, die bedeutende Leistungen im Dienste der Menschheit auszeichnen soll, zeugt nicht so sehr von der Menschenliebe als vielmehr vom schlechten Gewissen des Spenders. Die Annahme eines solchen Preises sollte die Auserwählten vor die Frage stellen, ob sie sich durch die hohe Geldsumme nicht werden verlocken lassen, die giftige Quelle, aus der der Geldstrom ihnen zufließt, zu verharmlosen oder gar vergessen zu machen. Es vergeht kaum eine Stunde, in der nicht in irgendeinem Teil des Planeten ein Mensch durch die in der Nachfolge dieser Erfindung entbundenen Kräfte getötet oder verwundet wird. Man hat Ähnliches von der Erfindung und massenweisen Verbreitung des Automobils, der Fluggeräte und anderer Fortbewegungsmittel behauptet. Auch wenn die Wirkung eine ähnliche ist, so liegt der Unterschied doch in der ursprünglichen Zielsetzung, die eine vermeintlich gute war, da sie die Menschen einander näher bringen sollte und nicht auf Zerstörung bedacht war. Dennoch wurde auch durch jene der vieltausendfache Tod von Menschen verursacht. Wenn zwar die nach jedem Krieg immer aufs Neue postulierte Kollektivschuld ganzer Völker an wahllosen Vernichtungen nicht anerkannt werden kann, da immer ein Einzelner die erste Anregung oder den letzten Anstoß zu diesen Verbrechen geben muss, so ist es doch daneben eine gemeinsame Verpflichtung zu fordern, dem Leben zu dienen und dem Töten in den Arm zu fallen.
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