Dahin gehend schmiedete Dale bereits Pläne: packen, sich den schlüpfrigen alten Verbrecher krallen und dann heimlich bei Nacht und Nebel aufbrechen. Natürlich würde er einen Abschiedsbrief schreiben und ihn dort hinterlegen, wo Ron ihn fand. Bedauerlicherweise unterschätzte er selbst jedoch, wie gefährlich der gute Francis war.
Taffer spürte zwar, dass er irgendeinen Draht zu den Untoten hatte, konnte sich aber keinen richtigen Reim darauf machen, warum. Sie fürchteten sich nicht vor ihm und hätten ihn wohl auch durchaus gern gefressen, ahnten aber anscheinend auch sein Wesen – ein treffenderer Ausdruck fiel ihm nicht ein – und das verwirrte sie offensichtlich. Anscheinend sträubten sie sich davor, ihresgleichen oder jemanden, dessen Körper zumindest infiziert war, anzurühren.
Als er so dastand und hinausschaute, kribbelte immer noch sein gesamter Körper, dies hatte angefangen, als er zu essen und zu trinken begonnen hatte. Aber es war zunehmend schlimmer geworden. Es war ein unerträgliches Jucken, und vom Kratzen taten ihm allmählich schon die Fingerspitzen weh. Er konnte die Stadt überblicken, sah die vielen Untoten und die wenigen Lichter in den Häusern, wo jemand überlebt hatte. Derart abgelenkt und in Gedanken versunken nahm er seine unmittelbare Umgebung gar nicht wahr. Schließlich tippte ihm jemand auf die Schulter. Es war Cooper.
»Taffer, alles okay mit dir?«
Sie standen noch immer auf dem Dach des Supermarktes, aber es war jetzt fast stockdunkel. Der Mond ließ sich nicht blicken, und dichter Nebel lag über dem Boden.
»Natürlich, ich denke bloß nach«, erwiderte Taffer lässig.
»Du hast diese Haltung aber schon vor Stunden angenommen und dich seitdem nicht mehr gerührt.«
»Vor Stunden? Hmm.«
»Ja, vor Stunden! Geht es dir wirklich gut?« Cooper trat ein Stück zurück. Er legte die Stirn in Falten. Zuerst wollte er eine seiner Pistolen ziehen, aber dann sah er davon ab. Taffer bereitete ihm zwar Kopfzerbrechen, aber in erster Linie ging es ihm um Ellens Sicherheit.
»Cooper, ich habe Angst.« Taffer streckte seine Arme nach vorne aus, wobei er die Hände aufhielt und so drehte, dass die Innenflächen senkrecht nach außen zeigten. »Ich fühle sie … die Zombies. Sie sind nicht tot, weißt du? Aber eben auch nicht lebendig. Ich fühle sie, und sie fühlen mich! Wir sind alle eins, stehen aber jeweils einzeln für eine Milliarde unterschiedliche Dinge.«
Was faselst du da?, dachte Cooper erschrocken. Taffer klang unglaublich wahnhaft. »Äh, bist du zufällig müde? Oder hast du Hunger?«
»Nein, mir ist es selten besser gegangen als jetzt.«
Cooper zupfte vorsichtig am Ärmel seines Gefährten. »Sieh mich an.«
Taffer drehte sich zu ihm um. Sein Gesicht wirkte abgesehen von der Farbe seiner Augen jedoch ganz normal.
»Können wir unbesorgt schlafen? Du benimmst dich wirklich merkwürdig.« Cooper betrachtete ihn eingehend, aber Taffer schien ganz der Alte zu sein.
»Ja, so sicher wie jetzt seid ihr schon lange nicht mehr gewesen.«
»Na dann … gute Nacht.« Leider fühlte sich Cooper aber nicht so sicher wie lange nicht mehr. Während er ein letztes Mal am Dachrand entlangging, hielt er mehrmals inne, um zu dem Freund seiner Schwester zu schauen. So sehr er sich auch bemühte, zur Ruhe zu kommen, musste er doch hin und wieder einfach einen Blick auf ihn werfen. Taffer rührte sich aber kein einziges Mal, sondern blieb weiterhin so regungslos wie eine Statue.
Er drehte sich wieder um und blickte auf das Meer der Untoten hinab. Dabei spürte er, wie etwas Unsichtbares von seinem Körper abstrahlte, über den Parkplatz hinweg in die Leiber fuhr, die sich in der Bucht tummelten und die vielen Schluchten auf der Halbinsel bevölkerten, und wie es sich fortpflanzte, weiter und weiter. Er flog um den Globus. Nach und nach gelangte er zu der Einsicht: Er wusste, auf der Welt verstreut gab es Überlebende und Unmengen reanimierter Toter. Einige von ihnen waren stark und fraßen, was das Zeug hielt, die meisten aber irrten nur herum und gierten nach Energie. In freier Wildbahn herrschte das pralle Leben, doch die Tiere hielten sich vor ihm – vor ihnen? – fern. Taffer war zugleich ein allumfassendes Geschöpf, das den Planeten wie ein weites Netz überspannte, und zugleich ein nebensächlicher, geistloser Kleinstteil des Ganzen. Er kannte sich deutlich besser als je zuvor und kam sich trotzdem so fremd wie nie vor. In jedem Fall beschlich ihn das starke Gefühl, dass dies nicht gut enden würde. Eine bestimmte Erkenntnis stand bei alledem allerdings noch aus, ein Blick hinter den Schleier sozusagen. Die bestehende Verbindung machte ihn nicht automatisch zum allwissenden Seher, dem nichts entging, zumindest vorerst nicht. Es war eher ein langsamer Vorgang, der ihm nur vage Eindrücke bescherte, eine willkürliche und rein visuelle Erfahrung. Alles schien sich nur in seinem Kopf abzuspielen, doch die Bande festigten sich nach und nach rapide. Unterdessen fragte sich Taffer allerdings immer wieder, worin genau diese Vereinigung bestand. Handelte es sich dabei um eine organische Entität, eine außerirdische Lebensform oder etwas von Menschen Geschaffenes? Der Verdacht, was er gerade erlebte, sei unnatürlichen Ursprungs, verhärtete sich leider mehr und mehr.
Mit der Zeit wurde das Bild klarer und die Erfahrung wirklichkeitsgetreuer. Deshalb wirkte es weniger wie ein Hirngespinst und eher so, als befinde er sich tatsächlich an dem jeweiligen Ort, den er gerade betrachtete. Und je länger er dies tat, desto präsenter fühlte er sich. Sein Seh- und Hörvermögen, ja sogar sein Geschmacks- und Tastsinn – gerochen hatte er noch nichts – verbesserten sich und wurden zusehends schärfer.
Über diese Bande reiste er nun um die ganze Welt, wobei er beliebig zu irgendeinem der vielen Orte abbiegen konnte, die er sich vorstellte. Er flog über Städte und Bauwerke, bisweilen sogar direkt hindurch. So erfuhr er nach und nach eine Menge über die Funktionsweise des Vorgangs an sich. Wie dieser mit den Dingen zusammenspielte, die ihm begegneten, fand Taffer besonders auffällig. Er konnte so die Entwicklung dieses Mechanismus in seiner trägen und unsteten Art fast von Beginn an bezeugen. Er vollzog mit, wie sich die Abläufe irgendwann beschleunigten, und zwar in immer schlüssigeren Bahnen. Was auch immer dieses Bündnis forcierte, zeugte vom Verhalten einer Person, die auf Entdeckungsreise ging und lernte.
Erst als Taffer eine abgelegene Insel erreichte – so geschwind im Sog der Verbindung, dass alles rings um ihn herum verschwamm – verstand er endlich, was es damit auf sich hatte. An diesem Ort war er schon einmal vorbeigekommen und er schien den Vorgang zu begünstigen. Zuvor hatte er eine andere Richtung eingeschlagen, um die Welt weiter zu erforschen und etwas Bedeutsames zu finden, doch wie es aussah, gab es im Moment mit Hinblick auf das Ende der Menschheit nichts Bedeutsameres auf der Welt als diese Insel.
Er setzte deshalb zum Tiefflug an, glitt auf der Strömung über die grünen Wiesen, hohen Bergspitzen und das nebelverhangene Blätterdach der Wälder. Plötzlich tat sich eine Kleinstadt voller Leben vor ihm auf. Dort standen parallel aufgereiht Armeezelte, und viele Menschen scharten sich auf den schmalen, geraden Straßen. Auf den ersten Blick wirkte es äußerst idyllisch … eine propere Zeltstadt auf einer Tropeninsel mit einer üppigen Vegetation … doch Taffer flog schnell und sah direkt hinter der Siedlung einen hohen Zaun. Dieser bestand aus einem ungeheuren Gewirr von Metallkabeln zwischen stämmigen Betonpfeilern, die sehr stark verwittert waren, überzogen mit schwarzer Fäulnis und grünen Auswüchsen des Dschungels, so als stünden sie schon seit Jahrzehnten dort. Mehrere der dicken Trossen baumelten lose zwischen Lianen, die überall am Zaun wucherten. Taffer sah nun einen Bereich, der offenbar gerade ausgebessert wurde. Dort brannten die Ranken, Arbeiter reparierten Kabel, und der Boden in der Umgebung wurde geräumt.
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