Vorsichtig drückt Marie das Tesafilm darauf, zieht es ab und klebt es auf eine Seite des Notizblocks.
Zufrieden betrachtet sie ihr Werk, wenn auch nicht alle Abdrücke gleich gut geworden sind. Zwei unterschiedliche Muster sind zu erkennen. „Eins muss von mir sein“, murmelt Marie und betrachtet ihren Daumen durch die Lupe. „Aha, der mit dem Wirbel ist meiner. Der andere hat nur einen leichten Bogen.“ Marie überlegt. „Wenn die Fingerabdrücke mit Saskias übereinstimmen, haben wir sie überführt. Ob Laura, Moritz und Alexander wohl was entdeckt haben?“ Marie hält nach ihnen Ausschau.
„Knochen!“, stammelt Moritz entsetzt und denkt sofort an Flucht.
Laura möchte keinen zweiten Blick auf den abscheulichen Knochenhaufen werfen. Sie zerrt am Ärmel ihres Bruders und will die Treppe hinunterlaufen.
Plötzlich beginnt Alexander laut zu lachen. „Halt! Jetzt wartet doch!“
Völlig verwirrt bleiben die beiden stehen und starren ihren Freund an. „Bist du durchgeknallt?“, schreit Laura wütend. „Ich will hier sofort weg!“
„Quatsch! Leuchte noch mal! Vor so ein paar Knochen muss man sich doch nicht fürchten“, erklärt Alexander seelenruhig.
Mit zitternder Hand richtet Moritz den Lichtstrahl noch einmal auf den Fund, der ihnen so einen Schreck eingejagt hat. „Die Knochen sind ziemlich klein“, gibt er dann zu.
Laura wagt sich nun sogar etwas näher heran. Alexander schiebt den Haufen mit dem Schuh auseinander. „Solche Knochen bleiben übrig, wenn man Hähnchen isst. Oder?“
Nun sehen Laura und Moritz es auch.
„Klar! Hier hat wohl jemand Hähnchen gefuttert“, gibt Laura erleichtert zu.
„Boah! Da muss einer aber viel Hunger gehabt haben“, meint Moritz. „Oder mehrere haben in diesem Loch gehaust.“ Er leuchtet mit seiner Taschenlampe den Raum ab. „Die haben sogar gegrillt. Da! In der alten Metallwanne ist verbranntes Holz. Und das bei zugenagelten Fenstern.“
Laura nimmt Moritz die Taschenlampe ab und leuchtet in alle Ecken. „Daher kommt der Gestank. Dosen mit Resten von weißen Bohnen, Mais und … was ist das?“ Sie beugt sich nach unten, um besser sehen zu können. „Hundefutter. Igitt! Ich will an die frische Luft.“
Endlich kommen Maries Freunde um die Ecke. Sie läuft ihnen entgegen und schaut sie erwartungsvoll an. Doch bevor sie etwas erzählen können, hat Marie Saskia im Eingang entdeckt.
„Los, wir müssen uns verstecken. Saskia darf uns nicht sehen“, flüstert Marie und verschwindet hinter der nächsten Mauer.
„Saskia?“, fragt Laura verwundert. „Woher weißt du, wie sie heißt?“
Marie berichtet, was sie erlebt hat. „Dumm, dass sie mich jetzt kennt“, fügt sie hinzu.
Laura klopft ihrer Freundin anerkennend auf die Schulter.
„Du bist ja eine echt mutige Detektivin.“
Strahlend, aber ein wenig verlegen sagt Marie: „Nun bin ich gespannt, was ihr entdeckt habt.“
Während die anderen von ihrem unheimlichen Erlebnis erzählen, verfolgen sie Saskia aufs Neue.
„Wenn das so weitergeht, kriegen wir heute nichts mehr zu essen“, befürchtet Alexander, dem laut der Magen knurrt. „Die Spinne geht mal wieder zur Bushaltestelle.“
Diesmal steigt Saskia wieder am Oxford Circus aus. Die Detektive springen gleich nach ihr aus dem Bus, um sie in dem Gewimmel nicht zu verlieren. Und da geschieht es: Moritz knickt um und fällt der Spinne geradewegs in den Rücken.
Erschrocken dreht Saskia sich um, schaut von Moritz zu Laura, von Laura zu Alexander und schließlich zu Marie. Als sie Marie entdeckt, schreit sie wütend: „Wieso verfolgst du mich?“
Oh Mist! , denkt Marie. Jetzt haben wir alles verdorben . Drohend geht Saskia einen Schritt auf Marie zu. „Was willst du von mir?“
Marie zuckt zusammen und fühlt sich irgendwie hilflos.
Moritz reibt sich den Knöchel und Alexander sucht krampfhaft nach Worten.
Laura hat sich als Erste von dem Schreck erholt. Sie nimmt all ihren Mut zusammen, schiebt ihre Brille zurecht und sagt zu Saskia: „Wir möchten dich gern sprechen. Hast du einen Moment Zeit?“ Sie zeigt ihr den Zettel, den Marie im Bus gefunden hat.
Verblüfft starrt Saskia sie aus ihren dunkel umrandeten Augen an. Laura holt einmal tief Luft und sagt: „Es ist wichtig für dich.“
Saskias Gesichtsausdruck wechselt von Misstrauen zu Verwunderung und Neugierde. „Und was habt ihr damit zu tun?“
„Wir haben zwei von deinen Zetteln gefunden. Und dann haben wir in der Zeitung darüber gelesen“, erklärt Laura und hält Saskia die Zeitung unter die Nase.
Die greift erschrocken zu und starrt auf die Schlagzeile und den Artikel. Anscheinend hat sie die Zeitung noch gar nicht gesehen. Die Detektive beobachten sie beim Lesen.
Kriegt sie gleich einen Wutanfall, rennt sie weg oder ist sie vernünftig? , überlegt Marie. Ihr ist ziemlich mulmig zumute.
Doch Saskia sieht plötzlich nur noch traurig aus. „Ich wollte ein paar Leute aufrütteln, sonst nichts“, gibt sie zu. „Die meisten haben die Zettel wahrscheinlich sowieso in den Papierkorb geworfen.“
Die Detektive schauen sie fragend an.
„Ich gehe hier zur Sprachschule“, erklärt Saskia. „Für meine Abschlussprüfung habe ich ‚Umweltverschmutzung und Umweltschutz‘ als Thema gewählt. Habt ihr schon gemerkt, wie es hier nach Abgasen stinkt? Und das Leitungswasser ist auch nicht sauber. Ich muss mir sogar Mineralwasser kaufen, wenn ich Tee oder Kaffee kochen will. Dabei ist alles furchtbar teuer.“
„Du hast geschrieben ‚oder es passiert was!‘ Das hört sich nach einer Drohung an. Was soll passieren?“, will Laura wissen.
Saskia zuckt mit den Schultern. „Es ist doch klar, dass viele Menschen irgendwann durch die Umweltverschmutzung krank werden. Aber ich schreibe jetzt keine Zettel mehr. Ich will nur noch meine Prüfung bestehen und dann nach Hause fliegen. Warum sollte ich noch hierbleiben?“
„Vielleicht weil du hier Freunde hast?“, fragt Marie.
Saskias Gesicht wirkt plötzlich wie versteinert. „Ich muss jetzt zur Schule.“
Marie lässt nicht locker. „Wir begleiten dich ein Stück.“
Einige Zeit gehen sie wortlos nebeneinander her.
Dann fragt Marie noch einmal: „Was ist mit deinen Freunden?“
Saskia bleibt stehen und schaut Marie feindselig an. „Gut, ich sag’s dir. Aber dann lässt du mich endlich in Ruhe! Meine beiden Freundinnen haben ihre Prüfungen schon bestanden und sind nach Paris gezogen. Und mein Freund Paddy hat mich rausgeworfen. Ich habe bei ihm gewohnt und gearbeitet. Er hat ein Ledergeschäft in Camden Lock.“ Die Detektive nicken. Sie erwähnen nichts davon, dass sie Paddy und das Geschäft kennen.
„Auf der Suche nach einem Job habe ich Paddy kennengelernt“, erzählt Saskia weiter. Anscheinend ist sie jetzt froh, ihr Herz ausschütten zu können. „Ich habe ihm im Laden geholfen und mich in ihn verknallt. Als ich seine Freundin wurde, bin ich zu ihm gezogen. Hinter seinem Lager ist eine kleine Wohnung. Bis vor einer Woche war alles super. Dann kam eine Rothaarige in den Laden, die er von früher kannte. Noch am selben Abend hat er mit mir Schluss gemacht.“
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