1 ...8 9 10 12 13 14 ...31 Bis dorthin waren es von hier aus noch annähernd 67 Meilen.
Paddy drückte das Pedal noch ein Stück weiter zum Bodenblech durch. Er hatte zwar Zeit genug, um zu tun, was er tun musste, wollte es aber nicht zu knapp werden lassen. Rein dort, Lieferpflicht erfüllen und schleunigst wieder raus aus diesem beschissenen Staat. Er musste davon ausgehen, dass der Laden gerammelt voll sein würde, weil sich all die Demonstranten und Medienvertreter dort tummelten. Bei 100 Meilen die Stunde beschleunigte er nicht weiter.
»Die Frage, auf die es ankommt, lautet: Ist Charles Stump geistesgestört?«, warf jemand im Radio ein.
»Geistesgestört?«, wiederholte Greg Noack. »Jemand, der acht neugeborene Säuglinge in ihren Brutkästen tötet, während ihre Mütter auf der Entbindungsstation ein paar Türen weiter schlafen, ist völlig krank, Mann!«
»Genau darauf wollte ich hinaus, Greg. Stumpy ist wegen Unzurechnungsfähigkeit schuldfrei. Warum will das rechten Schwachköpfen wie dir oder Rush Limbaugh nicht einleuchten?«
In diesem Tonfall ging es Anruf um Anruf weiter. Die Tränendrüsendrücker bevölkerten den Äther in dieser Nacht scharenweise. So wie es aussah, hatten sich neben der Reporterriege zwischen 300 und 400 Personen bei Minustemperaturen vor den Toren der Haftanstalt Little Miss versammelt. Man zündete Kerzen an – viel Glück bei dem Wetter –, protestierte gegen die Todesstrafe, pochte auf geistige Verwirrung des Täters zum Zeitpunkt der Morde, Stumpy sei schließlich von seiner durchgeknallten Mutter missbraucht worden, bla, bla …
Als ob dies eine Entschuldigung sei! Der Kerl sollte nicht über den Jordan gehen, weil er angeblich auch ein Opfer war? Schon klar. Heutzutage durfte sich jeder zum Opfer stilisieren. Hitler war auch eins gewesen, ganz bestimmt. Seine Mama hatte ihn geschlagen, wenn mal wieder was in die Hose gegangen war. Bei diesem Typen, dem momentan vermutlich verhasstesten Menschen auf der Welt, bestanden keine Zweifel, und trotzdem liebäugelte der Gouverneur zu dieser Stunde mit Strafaufschub. Ernsthaft? Politik. Genug damit. Wenigstens die Geschworenen vor Gericht hatten den Schneid besessen, Stumpy als skrupellosen Kindermörder abzuurteilen.
Paddy Strelnikow indes wusste, dass mehr hinter Stumpy steckte.
Viel mehr.
Er hatte den Mann zu seinem Hobby erkoren, als er mehrere Monate zuvor von der Moskauer Obrigkeit mit seinem gegenwärtigen Auftrag betraut worden war. Vor Aufsetzen seines Berichts hatte er alle Transkriptionen des Prozesses gelesen, hier und dort jemandem einen Drink spendiert, Krankenschwestern verhört, die in der Tatnacht Schicht hatten, außerdem den Typen von der Polizeihundestaffel, der auf die verscharrten Babyleichen gestoßen war, sowie die für die Festnahme zuständigen Beamten, den Gerichtsmediziner – die ganze Bagage.
Danach war er auf ein Schwätzchen mit Mrs. Stump nach Lorraine im Staat Illinois gefahren, wo sie schon seit 1993 in einer Klapsmühle Kreuzworträtsel löste. Schöne Geschichten konnte sie erzählen, diese kleine Weißhaarige mit ihren knapp 40 Kilo und einem gehörigen Riss in der Schüssel …
Laut Mom in ihrem properen Hauskleid mit langen Ärmeln, die man einmal ganz um den Oberkörper gewickelt und mit stabilen Schnallen am Kreuz fixiert hatte, habe sich der junge Charlie als kleiner Wicht die Zeit damit vertrieben, Insekten, Goldfische, Nagetiere und zuletzt Kätzchen in eine alte Mikrowelle im Keller der Familie zu stecken. Er hatte sie auf der höchsten Leistungsstufe des Geräts gegrillt. Dann war er zu höher entwickelten Lebensformen übergegangen.
Arzthelfer Stumpy, ihr Goldjunge, habe jahrelang Säuglinge und ältere Kinder vergewaltigt und umgebracht, so seine Mom zu Paddy, wobei da ein Funkeln in ihren auf unheimliche Weise hervorgetretenen, blauen Augen gewesen war. Und was dann? Na, Stumpy hatte gemeint, die Angehörigen seiner Opfer zur Weihnachtszeit anrufen und mit Andeutungen, ihr Nachwuchs sei noch am Leben, in den Wahnsinn treiben zu müssen. Woher sie das alles wisse, hatte er gefragt. Sie sei im Obergeschoss gewesen und habe an ihrem anderen Telefon zugehört – daher. Dies waren die Vorstellungen der Familie Stump von Feiertagsunterhaltung, ihre besonderen Weihnachtsgrüße.
Sein letzter Bericht enthielt all diese Informationen. Er hatte ihn an seinen Vorgesetzten geschickt, der ihn an seinen eigenen Boss weitergegeben hatte, der wiederum an seinen und, und, und. So kam es, dass Paddy hier draußen am Arsch der Welt unterwegs war und sichergehen musste, dass es bei dieser einen Hinrichtung in jeglicher Hinsicht mit rechten Dingen zuging. Im Fall von Charles Edward Stump durfte es keinerlei ungeklärte Fragen geben.
Der Zauberer, wie er seinen Vorgesetzten heimlich nannte, mochte keine ungeklärten Fragen, und der Zauberer war eben das Zünglein an der Waage, Paddy hingegen nur eine Hilfskraft auf Abruf. Das wusste, das akzeptierte er. Er war ein Dienstleister, sonst nichts – aber bei Gott, ein guter. Ohne Scheiß.
Als Strelnikow das grün fluoreszierende Ausfahrtschild nach Medora näherkommen sah, wechselte er auf die rechte Spur. Er hatte ab Little Miss für den Rest der Strecke eine wenig befahrene, zweispurige Bundesstraße gewählt. Nun lehnte er sich zur Seite, um das Radio abzustellen. Er konnte es nicht mehr ertragen, wie diese Leute den Armleuchter in Schutz nahmen. Auch jetzt noch, wenn er bloß daran dachte, musste Paddy angesichts der Dummheit, die bei den Stumps in der Familie zu liegen schien, den Kopf schütteln.
Man musste beispielsweise selten dämlich sein, um sich in einem Bundesstaat zur Hinrichtung verurteilen zu lassen, wo es die Todesstrafe gar nicht gab.
Der Richter hatte Charles Edward Stump in acht Anklagepunkten des vorsätzlichen Mordes schuldig befunden.
Er war zur Tatzeit 27 Jahre alt und Pfleger auf der Entbindungsstation des Fargo General Hospital gewesen. Hallo? Leumundsprüfung? Folglich hatte er in einer finsteren Nacht vor drei Jahren – niemand konnte es sich erklären – den Brutkastensaal betreten und alle Neugeborenen, einen nach dem anderen, mit einem Kissen ersticken können.
Licht aus, Kinder!
Dann soll er den Abschriften zufolge, die Strelnikow gelesen hatte, seine kleinen Opfer in zwei Kissenbezüge gesteckt haben, aus der Klinik gegangen und in seinen Wagen gestiegen sein. Von Watford City aus, dem Standort der Einrichtung, war er mit den Babyleichen nach Süden gefahren. Gleich am gegenüberliegenden Ufer des Little Missouri River hatte er an einer unbefestigten Straße vor Grassy Butte angehalten und sie alle auf dicht bewaldetem Gelände am Rand des Nationalparks Theodore Roosevelt vergraben.
Bei der Autopsie wurde später festgestellt, dass zwei der Kinder noch nicht tot gewesen waren.
Hätte Stumpy nur ein bisschen Hirnschmalz besessen, wäre er wegen des ersten Wortes in der Bezeichnung Nationalpark vielleicht stutzig geworden. National bedeutete, dass sein Verbrechen auf bundesstaatlicher Ebene geahndet wurde. Jetzt waren es eben die Bundesbehörden, die ihn heute Nacht auf seiner bequemen Liege festzurren und in ewigen Schlaf versetzen würden.
Blaulicht, das im Rückspiegel aufflackerte, holte Strelnikow in die Gegenwart zurück.
»Na großartig«, brummelte er, bremste und lenkte hinüber, um auf dem Seitenstreifen stehenzubleiben. Er war doch nur 100 gefahren. Hatten die Marsmenschen hier ein Problem damit? Er lehnte sich zum Handschuhfach hinüber, klappte es auf und griff zu seinem .38er. Um ihn schnell ziehen zu können, falls er dazu gezwungen sein würde, schob er ihn so unter seinen rechten Oberschenkel, dass der Griff an der Seite herausragte.
Beinahe im selben Moment erschien der Bulle an der Fahrertür und hielt ihm eine Taschenlampe vors Gesicht. Paddy ließ die Scheibe hinunter, woraufhin kalte Luft Schnee hereinwehte, und fragte: »Alles senkrecht, Officer?«
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