Als der Aufzug stoppte, traten sie hinaus.
»Wir sind weit gekommen, Sergei Iwanowitsch. Vor acht Jahren hatten wir Wichtigeres zu tun – selbst im militärischen Bereich –, als schicke Verwaltungsbunker zu bauen, doch die russische Armee, ja der gesamte Staat ist in hohem Maße auf die GRU als Seh- und Hörorgan angewiesen. Das Personal verdient derart moderne Arbeitsbedingungen.«
Das stimmte. Nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 war es mit den Informationsbeschaffungsdiensten im Land für mehrere Jahre auf beängstigende Weise bergab gegangen. Das zutiefst gefürchtete KGB, Rostows Brötchengeber bis zu seinem jetzigen Leben, hatte als Institution eine Talfahrt durchlebt. Eine Vielzahl sowjetischer Spione waren zu westlichen Behörden übergelaufen und hatten ihre Geheimnisse verkauft. »Besser tot als rot«, dies war ein geflügeltes Wort unter Briten und Amerikanern gewesen. Doch jene Ära gehörte nun definitiv der Vergangenheit an.
Der Dunkle Ritter, Graf Iwan Korsakow, hatte sich erhoben, um Mütterchen Russland zu retten.
Mit Rostow an seiner Seite würde er der Nation wieder zu ihrem rechtmäßigen Stand in der Welt verhelfen.
Ganz oben.
»Guten Morgen, meine Herren«, sagte Graf Iwan Iwanowitsch Korsakow hinter seinem dunkelroten Vorhang.
Seiner Grabesstimme wohnte durch ein Mikrofon verstärkt etwas Körperloses inne, das jedermann in Hörweite noch unruhiger machte. Er konnte sie sehen, sie ihn jedoch nicht. Wenige Personen, nur seine engsten Vertrauten im Kreml, genossen das Sonderrecht, Korsakows Antlitz sehen zu dürfen. Er bewegte sich und waltete im Schatten.
Korsakow wurde von den Medien weder interviewt noch fotografiert und war über alle Maßen reich. Der mächtigste Mann Russlands lebte sehr zurückgezogen.
Allerdings spürte jeder im Neuen Russland und bis zu einem gewissen Grad auch fast der ganze Rest der Welt die Tragweite seines sagenhaften Intellekts. Im schwachen Licht der Geheimzimmer im Herzen des Kreml regierte Graf Korsakow wie ein Zar. Hinter jenen dicken Mauern aus roten Ziegelsteinen, die im 15. Jahrhundert erbaut worden waren, munkelte man sogar, er trage den Titel bald offiziell.
Wladimir Rostow und seine Silowiki, die zwölf größten Machthaber im Land, hatten sich in Korsakows privatem Besprechungsraum eingefunden. Diese prächtige Galerie mit schweren, vergoldeten Kronleuchtern hatte der Graf kraft der Anordnung des Präsidenten erhalten. Er durfte persönlich darauf zurückgreifen, wann immer im neuen GRU-Hauptquartier Fragen bezüglich der Staatssicherheit zur Diskussion standen.
An den getäfelten Wänden gerahmt, ebenfalls in Gold, hingen Bilder, die auf Korsakows Steckenpferd hindeuteten: Luftschiffe. Angefangen bei einem Kupferstich des ersten Heißluftballons, der je abgehoben hatte – 1783 über Paris –, bis zu Ölgemälden der großen Zeppeline der Nazis fehlte keines. Sein Lieblingsmotiv, gemalt auf einer übergroßen Leinwand, zeigte den deutschen ZR-1 bei seinem legendären Nachtangriff über London, wobei sein Rumpf silbern im Schein der rot glühenden Feuer auf den Straßen unterhalb glänzte.
Den Großteil des Raums nahm ein Tisch ein, den Rostow anhand eines eigenen Entwurfs hatte fertigen lassen. Das eigentlich Ungewöhnliche daran stellte seine Form dar. Er war so groß, dass ohne Weiteres bis zu 25 Personen an allen drei Seiten Platz fanden. Der Tisch glich einem überdimensionierten, gleichseitigen Dreieck aus mit Schellackpolitur behandeltem Kirschholz. An einer Spitze stand natürlich der hohe Ledersessel des Grafen.
Hinter dem Sessel hing jener Vorhang aus rotem Samt, der während Stalins Schreckensherrschaft bekannt geworden war. Bei bestimmten Versammlungen im Kreml hatte der Diktator hinter diesem Stoff gesessen und die Gespräche aufmerksam mitverfolgt, deren Worte denjenigen, die sie äußerten, hinterher oftmals Kummer bereiteten. Auf der anderen Seite gegenüber von Stalins Vorhang hing ein herrlich herausgearbeiteter und wiederum vergoldeter Doppeladler zum Gedenken an das einstige Kaiserreich.
Jetzt saß Graf Korsakow hinter dem alten, abgegriffenen Stoff. Er war wie Stalin zuvor der Strippenzieher, der die wahre Macht in seinen Händen hielt.
Die zwölf Männer verteilten sich an den drei Seiten des glatt polierten Tischs. Platzkarten teilten ihnen ihre Stühle zu, und dass Besteck aus reinem Gold sowie edles Geschirr aus rotem Porzellan ausgelegt waren, welches man dauerhaft aus Schloss Peterhof »geliehen« hatte, ließ darauf schließen, man werde ein Frühstück serviert bekommen. Dessen nahm sich unverzüglich eine Gruppe Kellner an, die in prachtvoll weißen Jacketts mit goldenen Schulterklappen eingetreten waren.
Rostow erschien erst, als sich alle niedergelassen hatten, und nahm an der »Spitze« Platz. Während ihm einer der Aufwärter den Stuhl unterschob, lächelte er einigen Anwesenden wohlwollend und anderen eher kühl zu, wobei manche auch mit völliger Nichtbeachtung gestraft wurden. Die Spannung nahm erheblich zu, als einer der Männer, die er ignorierte, seinen Trinkbecher versehentlich mit einem Ellbogen umstieß und sich das enthaltene Wasser über den Tisch ergoss. Ein Kellner machte das Malheur mit einem Lappen ungeschehen, doch der Präsident tadelte den Mann mit einem verächtlichen Blick.
Neben jedem Goldbecher voller Wasser auf dem Tisch lag ein Geschenk, vermutlich eine kleine Aufmerksamkeit des Grafen. Rostow nahm seines in die Hand und betrachtete es: ein goldenes Zellenemail-Schupftabakdöschen mit dem Konterfei von Iwan dem Schrecklichen. Er verstand es als Witz. Es handelte sich sogar um ein echtes Fabergé-Werkstück, wie er erkannte, als er es umdrehte.
»Guten Morgen, Genossen«, dröhnte die vertraut geisterhafte Stimme aus verborgenen Lautsprechern. Sie hörte sich nach einer Bassbox an, die richtig eingestellt werden musste, doch der Tonfall des Grafen war unmissverständlich: Heute rollen Köpfe, dachte der Präsident und musste schmunzeln. Heute rollen Köpfe.
»Guten Morgen, Exzellenz!«, antworteten die Männer nahezu im Einklang und vielleicht einen Tick zu schrill.
Von den 13 Personen am Tisch blieb nur das russische Staatsoberhaupt völlig still. Er lächelte die anderen nachsichtig an, was ihm einen beinahe väterlich amüsierten Gesichtsausdruck verlieh. Die guten Nachrichten, die er mitbrachte, erlaubten ihm, entspannt zu bleiben und einen ruhigen Eindruck zu vermitteln. Seine Tischgesellen hingegen wirkten unruhig, blickten hektisch um sich. Dabei waren viele von ihnen mit zwei Sternen dekoriert, dem sogenannten ›Helden‹ sowohl der Sowjetunion als auch der Russischen Föderation. Hieran zeigte sich, welch enorme Macht der Dunkle Ritter besaß.
»Die Besichtigung hat Ihnen allen gefallen, nicht wahr?«, fragte Korsakow.
Einhelliges Nicken folgte. Der Präsident war einer der wenigen, der diese Geste nicht nachahmte. Er hatte sich schon früh einen Trick angeeignet, um nicht alles automatisch abzusegnen, was der Graf von sich gab: Indem er seinen rechten Ellbogen fest auf den Tisch stützte und die Hand zur Faust ballte, legte er sein Kinn darauf und verharrte so für den weiteren Verlauf jeder Versammlung. Geistloses Kopfwackeln kam für den Präsidenten von Russland nicht infrage!
»Lassen Sie uns beginnen, Genossen«, fuhr Korsakow fort. »Wir heißen Präsident Rostow nach seiner Rückkehr von der Barentssee willkommen und sind gespannt, was er von den Raketentests unserer neuen Bulawa auf dem Meer zu berichten weiß. Als ersten Punkt unserer Tagesordnung werden wir allerdings eine kleine Ungenauigkeit richtigstellen. Bei einer Besprechung im Kreml vor einem Jahr gab ich dieser Gruppe zwei sehr schlichte Dinge zur Berücksichtigung mit auf den Weg. Ich bestand darauf, dass Sie Ihre Steuern zahlen – bis auf den letzten Rubel. Ferner verlangte ich, dass Sie sich auf keinerlei politische Aktivitäten einlassen, die unserem werten Präsidenten in irgendeiner Weise schaden könnten. Erinnert sich jeder hier noch daran?«
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