Ahmet Arslan verließ das Klo. Die Autobusstation bot ihm einen bizarren Anblick und bestätigte ihn in seiner Annahme der spirituellen Vereinigung von religiöser Notdurft und Konsum. Das WC war eine große Halle, und in ihr gab es mehr Armaturen für rituelle Waschungen als Waschbecken und Pissoire zusammen. Dort saßen die Gläubigen, zogen ihre verschwitzten Socken von den Füßen, und wuschen diese, zogen sich Wasser in die Nasen und spuckten krächzend Rotz zu Boden. Dann begaben sie sich in den Gebetsraum.
Ahmet musste den Deutschen finden, um sich bei ihm zu entschuldigen. Und um seine Angst zu besänftigen, dass der Deutsche bereits Selbstmord begangen haben könnte. Doch der saß an einem Tisch in der hintersten Abteilung des geräumigen Speisesaals apathisch vor einem dampfenden Teller Köfte.
Wie sich die Raststationen verändert hatten. In seiner Erinnerung waren das klebrige Imbissbuden. Die waren blitzblanken Servicezonen gewichen mit über Drehkreuze begehbaren riesigen Selfservicekantinen. Von der Wand dahinter glänzten orientalische Fliesen. Und daneben fing die Shoppingmall an.
Wie Fremdkörper irrten die anatolischen Bauern durch die Konsumzone, wie falsch besetzte Komparsen in einem Werbefilm für die neue Türkei. Ahmet merkte ihnen an, wie unwohl sie sich in dieser Umgebung fühlten, wo die nächste Wand so weit entfernt war wie die Tenne im Dorf. Sie saßen stumpf wie der Deutsche da und tunkten Weißbrot in ihre Linsensuppen, welche sie nach allerhand demütigenden Ungeschicklichkeiten aus dem Kantinenlabyrinth zum Tisch befördert hatten. Ein Teil der Mitreisenden war gleich draußen auf den Stufen geblieben und verspeiste dort Sucuk. Ahmet Arslan fühlte sich ihnen tief verbunden. Vielleicht wurden die Videos der Überwachungskameras an Privatfernsehstationen geschickt, damit das städtische Publikum in Comedyshows über seine eigene Vergangenheit lachen konnte.
Ahmet Arslan brauchte eine Zigarette. Vor der automatischen Glastür stand die Kemalistin und rauchte. Es war zu spät, ihr auszuweichen.
Mit süffisantem Lächeln bot sie ihm eine Zigarette an.
Sie sehen wie ein eiserner Nichtraucher aus, der sich zwischendurch wieder mal eine gönnen mag.
Da haben Sie leider recht.
Ahmet Arslan und Dilek Demir kamen ins Gespräch. Es dauerte keine Zigarettenlänge, bis sie sich beschnuppert hatten. Als sie gemeinsam ins Stationsgebäude zurückgingen, wusste sie, dass er ein in Wien lebender Intellektueller und ehemaliger politisch Verfolgter war, der nun endlich in sein Heimatdorf zurückkehrte – Ahmet hatte das so kurz wie möglich referiert, aber nicht ohne die Geschichte in eine Lasurlösung aus Romantik zu tunken –, und er wusste, dass sie Modedesignerin und Tochter eines reichen Agas aus Solhan war, der eine Geburtstagsparty für sie hat ausrichten lassen, die sie nicht versäumen dürfe, weil Papa ihr dort die Schlüssel ihres neuen Geländewagens überreichen würde. Dummerweise habe sie den Flug versäumt und müsse nun diese beschwerliche Busreise auf sich nehmen. Man müsse das positiv sehen, immerhin lerne sie ihr Land von einer anderen Seite kennen. Ahmet beschloss ihr die restliche Pause ein charmanter Zuhörer zu sein und sie in dem Bild zu bestätigen, das sie zu vermitteln versuchte. Von ihrer sprudelnden Vertraulichkeit ließ er sich mitreißen, denn sie besaß ein unerwartetes Maß an Selbstironie – und schon war geschehen, was er gerne vermieden hätte: Sie war ihm sympathisch geworden.
Wissen Sie, Herr Arslan, auf was ich jetzt wirklich Lust habe?
Sie leckte sich die Lippen und schenkte ihm einen schalkhaft verführerischen Blick.
Nur Pommes mit Ketchup und Mayo, sagte sie. Dafür eine Riesenportion. Und ein Bier.
Ahmet nickte freudig. Menschen wie sie pflegen ihre kulinarischen Vorlieben wie weltanschauliche Bekenntnisse auszubreiten. Genau das Gleiche wolle er auch zu sich nehmen, verriet er ihr. Wenn das so sei, dann solle er sich einen Platz suchen, und sie werde Speis und Trank holen. Sie müsse üben, ergänzte sie, denn noch nie in ihrem Leben habe sie einen Mann bedient.
Er blickte ihr nach. Und war bereits etwas verschossen in sie. Markierte sie die Ulknudel, weil sie spürte, dass er sie für ein verwöhntes Mädchen hielt? Dabei waren dieser sorglose Humor und die schlagfertige, aber kindliche Koketterie doch das sicherste Indiz für ihre Verwöhntheit. Gut nur, dass er bei Elazığ ausstieg, wo würde das noch enden? Auf der Hacienda ihres Vaters?
Ahmet erinnerte sich plötzlich des kleinen Rekruten und suchte nach ihm. Der saß einige Tische weiter, mampfte traurig seinen Bohneneintopf und ließ sich nicht anmerken, dass er Ahmets Blicke bemerkte.
Die Kemalistin kam mit zwei Pagoden dampfender Pommes frites zurück, die beiden Bierdosen hatte sie zwischen Teller und Brust geklemmt. Ahmet half ihr beim Abstellen.
Sie fragte ihn, was er in Wien so mache.
Er habe Philosophie und Politikwissenschaften studiert und eine Zeit lang an der Universität unterrichtet, das habe nicht viel eingebracht, er sei nun Sozialarbeiter, unterrichte an Volkshochschulen politische Bildung, lektoriere Diplom- und Doktorarbeiten und reiche hie und da ein Projekt ein.
Dilek fand das alles höchst interessant. Sofort offenbarte sie ihre Vermutung, dass er in der Türkei ein linker Widerstandskämpfer gewesen sei. Ahmet aß die Pommes zu schnell, während Dilek nach einigen Minuten noch immer dasselbe Stück zwischen den Fingern hielt und zum Gestikulieren verwendete.
Sie finde solche Leute wie ihn unglaublich interessant, jemanden, der Prinzipien und Werte habe, für die es sich zu kämpfen lohnt, ja, für die er sein Leben zu geben bereit sei.
Viele ihrer Freunde hätten die Türkei nur aus wirtschaftlichen Gründen verlassen, sie selbst habe zwei Präsentationen in der Schweiz gehabt, eine in Basel, eine in Fribourg. An Angeboten habe es beileibe nicht gemangelt. Aber man müsse im Leben kämpfen. Auch wenn sie nicht so aussehe, auch sie habe Durststrecken durchlaufen, ehe sie mit ihrem Start-up Erfolg hatte. Es sei so einfach, einem zurückgebliebenen Land wie der Türkei den Rücken zu kehren und dem Ruf des besseren Angebots, der besseren Nachfrage zu folgen. Mutiger sei es doch, sich der Herausforderung zu stellen, im eigenen Umfeld etwas auf die Beine zu stellen.
Ahmet konnte nicht einmal ärgern, dass sie ihm da – unabsichtlich zumal und indirekt – Fahnenflucht vorgeworfen hatte, da wäre ihr hektisches Nachhaken gar nicht nötig gewesen, dass sie damit keinesfalls ihn meine, der – so zumindest ihre Annahme – aus politischen Gründen das Land verlassen musste. Ahmet nickte lächelnd und schluckte.
Sie und ihre Freundin Özlem hatten die Idee, eine Art Fair-Trade-Kampagne für kleine Textilproduzenten aufzuziehen und auch das Self-Empowerment bäuerlicher Produzentinnen zu fördern. Aber, sagte sie entschieden und stach mit ihrer Pommes ein Loch der Aufmerksamkeit in Ahmets Blickfeld, glauben Sie, diese armen, unterdrückten Geschöpfe Gottes würden sich helfen lassen.
Letzten Sommer fahre ich extra nach Kappadokien raus in eines dieser Yörükdörfer. Sie wissen schon, die sesshaften Nomaden. Natürlich wissen Sie. Verzeihen Sie. Die stellen in Heimarbeit diese wunderschönen Hamamtücher her. Großartige Arbeit. Wirklich. Wir wollten Pareos und Kleider daraus machen. Für so was sind die noch nie verwendet worden. Diese Mädels waren wirklich super. Keine Frage. Total freundlich und trotzdem stolz und eigenwillig. Aber leider auch sehr dumm. Die verkaufen das Zeugs pro Stück zu fünf Euro an ihre Cousins in Antalya, die sie um 20 Euro oder mehr weiterverkaufen. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Ja? Dreihundert Laufmeter zu 1500 Euro. Das ist unsere Schmerzgrenze.
Ahmet nickte mit vollem Mund und versuchte, sein Schmatzen zu dämpfen.
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