Ich kann Ihnen nur aus eigener Erfahrung raten, meine Liebe, nicht auf ihr Ich zu verzichten, und im Übrigen ist nichts eitler als prahlerische Selbstlosigkeit. Ich weiß schon, was Sie meinen. Sie meinen diese wunderbare Freude von Kindern, die die Welt erforschen und dabei sich selbst vergessen. Wir sollen uns aber selbst gefallen. Das Problem beginnt erst dann, wenn wir die Wahrheit zurechtkneten, damit wir Gefallen bei anderen Menschen finden. Das ist der Sündenfall. Nicht der harmlose Egoismus.
Wir sind alle Kinder unserer Herkunft, liebe Dilek. Ich bin in Armut aufgewachsen. So etwas macht einen nicht automatisch zum Kapitalismuskritiker. Die meisten werden nur Neider. Aber es sensibilisiert für den Kern aller Probleme. Wenn man materiell sorglos aufwächst, ist man stärker mit sich selbst beschäftigt und sieht die Welt mehr als Design, als ästhetischen Aufputz der eigenen Allmachtsfantasien. Man interessiert sich für die Bäume, die Schmetterlinge, für Dekor und Lifestyle und Psychologie und nimmt die Gesellschaft als Kulturen wahr; dann schult man seinen Gerechtigkeitssinn dadurch, dass man glaubt, Kulturen wollen anderen ihre Kulturen wegnehmen. Dabei sind das Scheinrealitäten. Ich weiß nicht …
Seien Sie nicht so hart gegen all die einfachen Menschen, die ungebildeten Frauen, die ihr Kopftuch tragen. Das sind keine Islamistinnen. Das Problem: Sie sind leicht manipulierbar. Ich bin ein Bauernsohn. Ich weiß, wie dumm Bauern sein können. Aber sie haben mitunter auch eine wunderbare Großzügigkeit und Herzensgüte. Und das sage ich ohne jede Spur der Idealisierung. Doch die Moderne hat sie verwirrt. Sie widerstehen den gefährlichen Ideologien, wie religiösem Eifer, Nationalismus und Faschismus schon aufgrund ihrer eigenen Unbeweglichkeit am längsten. Sobald es sie aber einmal erwischt hat, werden sie ihre willfährigsten Vollstrecker. Ich hatte mit 18 an den Leninismus wie an eine Religion geglaubt. Und musste erst lernen, ihn kritisch zu befragen. Aber stellt ihr Liberalen mehr Fragen als die Leute, denen ihr euch so überlegen fühlt?
Dilek, Schwester, ich kann dir nur sagen, bekämpfe das Wirtschaftssystem. Dort wo es sich smart und zivilisiert und ausgewogen und vernünftig gibt. Ich habe keine schönen Aussichten. Zeit meines Lebens habe ich gegen Apokalyptiker geschimpft, und das mit guten Gründen. Aber diesmal ist es anders. Ich kann in die Zukunft sehen, und was ich dort sehe, macht mir Angst. Die Türkei ist konservativer geworden, doch gleichzeitig scheint es, dass sie toleranter gegenüber Minderheiten und wirtschaftlich erfolgreicher ist. Glaub mir, das ist nur eine Phase. Die Ouvertüre zum nächsten Faschismus. Und wir werden nirgends vor ihm fliehen können. Auch nicht in Europa. Die Hölle kehrt wieder. Schwester, du musst dich jetzt schon rüsten gegen die Wiederkehr der Barbarei. Die Hüter des westlichen Lebensstils und der offenen Gesellschaft werden dir ritterlich die Hand und Schutz gegen die Barbaren anbieten. Nimm ihre Assistenz an, um das Schlimmste hinauszuzögern, aber vergiss nie, dass ihre Geschäftsgrundlagen die nie versiegende Quelle der scheußlichen Ideologien sind, gegen die wir uns zu wehren haben. Wer sie zuschüttet, macht dem Spuk ein Ende. Ich fürchte, der Faschismus des vorigen Jahrhunderts war nur ein Aperitif, ein erster Versuchslauf. Wenn ich betrachte, wie die Ökonomie ihre Diktatur festigt, welche Rattenfänger sie auf den Plan ruft und wie schwach und dumm die Linken sind, so steuern wir auf eine schreckliche Eiszeit zu. Und wenn ich realistisch wäre und nicht Berufsverbot, Irrenhaus und Ächtung fürchten müsste, dann würde ich dir raten, sofort alle Banker, Bosse und Spekulanten des freien Marktes zu töten. Würden der Papst und der Dalai-Lama und … komm hilf mir, Schwester … nenne mir noch irgendjemanden, den jeder liebt und cool findet und nicht auf der Straße verbluten lassen oder von der Polizei zusammenschlagen lassen würde wie einen rechtlosen Flüchtling.
Johnny Depp?
Ja, warum nicht. Also würden der Papst und der Dalai-Lama und Johnny Depp gemeinsam in die nahe Zukunft reisen, würden sie nach ihrer Rückkehr keine Sekunde zögern, sie alle umzubringen, wie eine Notmaßnahme, wie das Ausschalten des Zeitzünders in der letzten Sekunde. Und die Blicke des Papstes und des Dalai-Lamas und von Johnny Depp wären entschlossener als meine, weil sie vielleicht wirkliche Idealisten wären, ich mich aber nur am erlöschenden Idealismus meiner Jugend wärme. Ich wäre mit dieser Einsicht Public Enemy, und alle Mitstreiter, Liberalen, Pazifisten, selbst die Revolutionäre würden sich von mir abwenden, weil solche Gedanken ja doch nur dazu beitrügen, Linke als stalinistische Massenmörder darzustellen und die Rechten als eigentliche Humanisten. Aber Benedikt und Dalai und Johnny hätten vielleicht eine winzige Chance: Sie würden in Anbetracht ihrer schrecklichen Erfahrungen aus der Zukunft sofort Privatarmeen rekrutieren und zur gleichen Zeit in alle Chefetagen der neoliberalen Schaltzentralen eindringen und alles bis auf die mittlere Ebene niedermetzeln. Und die Sicherheitskräfte wären dann plötzlich in der unangenehmen Situation, den Papst, den Dalai-Lama und Mr. Depp zu erschießen, und bevor die das Feuer eröffnen, werden die drei ihnen zurufen: Um Himmels willen, geht nach Hause und vertraut uns, wir müssen das tun, um die Welt zu retten. Man wird sagen, dass das ein abscheulicher, bloß symbolischer Akt war, der nur einzelne Menschen geopfert hat, aber das System nicht in seinem Kern traf. Irrtum, das Räderwerk würde kurz stillstehen, lange genug, um zu enteignen und die Drähte aus den Computern zu ziehen. Und es würde Jahre dauern, bis man erkennt, dass sie einen Zug gestoppt haben, der auf den Abgrund zuraste. Aber warum würde ich mich nicht diesen drei Helden anschließen? Weil ich ein feiger Hund bin, Dilek. Und weil ich ein feiger Hund bin, werde ich weiter wählen gehen, meine Rosen gießen und ein blödes Demokratengesicht aufsetzen.
Du siehst, Schwester, ich kann dir nicht wirklich helfen und bin ebenso ratlos wie du. Und was mir soeben über die Lippen gekommen ist, entlarvt mich auch in deinen Augen als gefährlichen Irren. Verzeih mir, ich war vermutlich noch nie so ehrlich. So, und jetzt müssen wir in den Bus. Der Kaptan , der Fahrer, sucht bereits nach uns.
Während sie sich gleichzeitig erhoben, lächelte ihn Dilek an.
Nein, nein, das hat alles schon Sinn.
Und siehst du, wandte Ahmet ein, das macht mir auch Angst, dass dich meine Gewaltfantasien nicht ängstigen. Du hast zu viel Kill Bill gesehen.
Ahmet war sehr stolz, dass er mit einer kulturellen Anspielung prahlen konnte, die ihm nichts bedeutete, ihr aber einiges bedeuten könnte.
Nein, sagte Dilek, du hast mir mehr geholfen, als du ahnst. Und ich habe dich sehr gut verstanden. Ich weiß nicht, wie weit ich gehen kann. Zumindest lass ich mich von meinen reichen Verehrern nicht mehr zum Dinner einladen. Dein Massaker aber, lass dir das von einer Frau vom Fach gesagt sein, hat einen Schönheitsfehler. Es hat zu wenig gute PR. Auch deine drei Musketiere, das wäre wirklich ein amüsanter Actionfilm, bräuchten gezielte Werbestrategien, sonst wäre alles umsonst. Nach meiner Rückkehr werde ich mit den drei Herren mal Kontakt aufnehmen und ihnen vorsichtig das Projekt Save the World unterbreiten. Ich werde dich jetzt nicht länger belästigen. Ich habe gekriegt, was ich wollte. Du setzt dich an deinen Platz, ich an meinen. Und dort werde ich sehr viel nachdenken. Sag mir, falls es mir bei meinem Vater zu langweilig wird, darf ich dich in Dersim mit meinem neuen Jeep besuchen kommen? Wie heißt dein Dorf?
Natürlich darfst du. Mein Dorf heißt Holike, nördlich von Elazığ zwischen Hozat und Pertek.
Die beiden küssten einander vor der Station auf die Wangen und bestiegen den Bus. Ohne einander anzusehen. Oktay hatte woanders Platz genommen und wich Ahmets Blick aus, als dieser an ihm vorbeiging. Der Deutsche schlief.
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