Dass die Gefängnisleitung in Bayrampaşa auf systematische Folter verzichtete und kaum sadistisches Personal anstellte, hieß aber mitnichten, dass man dort ohne Gefahr lebte. Mit regelmäßigen Hungerstreiks fügten sich die Genossen lebenslange gesundheitliche Schäden zu.
Die Kriminellen fürchteten die Politischen wegen ihrer Organisation und Unerschrockenheit. Aber verirrte sich mal ein verlorenes Schäfchen im Gefängnishof in falsche Gesellschaft, konnte es leicht sein, dass man es schlug, ausraubte oder vergewaltigte. Der Respekt dieser Halunken vor den Politischen war deren Schutz, denn der Ruf ihrer Taten und die völlig unverständliche Tatsache, dass sie diese Taten nicht irgendeines Gewinns willen außer dem einer besseren Gesellschaft vollbrachten, eilte ihnen ins Gefängnis voraus. In Wirklichkeit waren sie allesamt durch die Prügel der Untersuchungshaft eingeschüchterte Jungs, die Bürgerlichen weich und verzweifelt, die härteren Arbeiter- und Bauernjungs chaotisch und desorganisiert. Es dauerte, bis aus ihnen, den unversöhnlichen Konkurrenten aus Dutzenden linken Splittergruppen, ein Block wuchs, und ihr verdientester Anführer, das war Mirhat Balık.
Mirhat Balık war ein Monster und der edelste Kizilbasch zugleich. Er hatte in der Schlacht vom 1. Mai an vorderster Front gekämpft, ein kleiner drahtiger Kurde aus Erzurum. Liebenswürdig, hilfsbereit, politisch unendlich naiv, aber ein meisterlicher Organisator. Hatte er, Ahmet Arslan, je intellektuelle Arroganz gegenüber den ungebildeten Genossen verspürt, spätestens mit Mirhat Balıks festem Händedruck war die aus seinem Körper gefahren. Mirhat Balık hatte ihm das Leben gerettet.
Bald hatten die Kriminellen die Schwäche vieler Politischer erkannt. Manche von ihnen, vor allem die Bürgerlichen, erlagen der romantischen Anziehungskraft der Gauner, Zuhälter und Mafiosi und begannen für sie zu arbeiten. Zudem kamen alte Animositäten zwischen den rivalisierenden politischen Zellen hinzu. Einen Jungen aus Mardin, der wie Ahmet bei Dev-Yol organisiert war, hatten ein paar Messerstecher im Gefängnishof so sehr verletzt, dass er wenige Tage später starb.
Einer der Unterbosse hatte ausgerechnet an Ahmet Gefallen gefunden und um ihn geworben. Ahmet hatte ihm dann bei einer seiner Avancen die Nase eingeschlagen und war davongelaufen. Eines Tages schickte man ihn mit einem Brief in den Trakt der Kriminellen, den er an einen Boss übergeben sollte, den sie Padişah nannten. Plötzlich sah sich Ahmet von einer Bande lüstern grinsender und ihre Messer zückender Häftlinge umringt. In diesem Augenblick fuhr wie ein Blitz Mirhat Balık dazwischen. Ahmet versuchte sich immer wieder diese Szene ins Gedächtnis zurückzurufen, doch war damals alles so schnell gegangen, dass sich auch so viele Jahre später eine logische Abfolge schwer rekonstruieren ließ. Mirhat Balık hatte vier Männer zu Boden gestreckt, einen in den Schwitzkasten genommen und seinen Kantinenlöffel in dessen Kehle gedrückt. Er hatte Ahmet gerufen, zu ihm rüberzukommen, und den anderen befohlen, in ihren Trakt zu verschwinden. Auch ohne diese Geisel hätten die Kriminellen den Rückzug angetreten. Mirhat Balık war tags zuvor aus Gaziantep nach Bayrampaşa verlegt worden, und diesem glücklichen Umstand verdankte er sein Leben.
Warum die Einwohner das Atatürk-Viertel noch immer Viertel des 1. Mai nennen
Drei Tage vor seiner Verhaftung war er ihm das erste Mal begegnet, an jenem schrecklichen 1. Mai 1978, als Ahmet und vierzehn seiner Genossen einer Armee von 300 Polizisten eine Schlacht lieferten: Mirhat Balık, jenem unerschrockenen Hitzkopf, der nicht die Kraft, aber die Behändigkeit eines Superhelden besaß. Wann immer sich Ahmet die Ereignisse dieses Tages in Erinnerung rief, spulten sie sich wie ein Film ab, den er teilnahmslos ansah und auf dessen Besetzungsliste er fehlte. Aber wenn die Szene kam, da er seinen sterbenden Freund Mustafa in Armen hielt, auf dessen Mund sich Blutblasen bildeten, die mit dem letzten Atemzug zerplatzten und seine rechte Hand mit kleinen Tröpfchen benetzten, wenn er das hübsche bärtige Gesicht seines Genossen vor sich sah, bleich und leer, kam ihm jede Sekunde dieses Tages in den Sinn zurück.
Dieser verfluchte 1. Mai. Heute ist die Gegend ein verbautes Viertel im asiatischen Stadtteil Ümraniye, damals war sie Stadtrand. Jahr für Jahr, Monat für Monat, Woche für Woche waren Familien aus Anatolien hierher geströmt und hatten Land in Besitz genommen. Für die Hütten, die sie darauf errichteten, gab es keine Baugenehmigungen. Eine kleine Stadt, Hunderte Hütten und Häuschen, so weit das Auge reichte, war in wenigen Monaten aus dem Boden geschossen. Ihre Erbauer waren wie Ahmet Menschen aus dem Osten, Lumpenproletariat, in die Stadt gespült, um dort rechtlos und ausbeutbar die Mühlen des Wirtschaftswachstums anzutreiben. Ahmet und seine Genossen hatten nicht gezögert und sofort mit der Politisierung der Migranten begonnen. Ob sie Türken oder Kurden oder Christen waren, spielte damals keine Rolle. Es waren ihre Leute, sie sprachen ihre Dialekte, sie waren ihr Fleisch und Blut. Und oft hatten sie dieses Fleisch und dieses Blut verdammt, so begriffsstutzig waren viele von ihnen. Mustafas Zelle war wesentlich beteiligt daran, eine funktionierende Administration einzurichten: provisorische Schulen, faire Wasserverteilung, Siedlungsräte, Bürgermeister, Diskussionsgruppen. Die meisten Bewohner vertrauten ihnen. Die Polizei wagte sich kaum in diese Siedlungen, und die Grauen Wölfe nach ein paar Versuchen auch nicht mehr, denn sofort stießen ihre Angriffe auf Gegenwehr.
Am 1. Mai 1978 war alles anders. Zwanzig Caterpillars waren angerückt, um die illegale Siedlung endlich platt zu machen. Hinter diesen und fünf Tanks war eine schwer bewaffnete Armee in Stellung gegangen. Die Leute aus der Siedlung waren, durch die politische Agitation von Mustafas Organisation angestachelt, zum Äußersten bereit. Mit Holzlatten und Steinen und rostigen Stangen bewaffnet, schrien sie ihre Wut aus den Lungen.
Ahmet und seine Genossen befanden sich plötzlich in einer absurden Funktion. Sie, die keine bewaffnete Konfrontation scheuten, waren nun Ordner, ein diplomatisches Corps geworden, alle ihre Kräfte aufwendend, die wütende Masse zu beschwichtigen, mit weißen Tüchern den Kontakt zur Polizei zu suchen und ein Massaker zu verhindern. Die Polizisten hätten ihre Emissäre, Mustafa und einen baumlangen Lazen namens Ibo, auf der Stelle verhaften können, doch sie akzeptierten sie als Sprecher, denn auch sie zeigten wenig Lust, Menschen zu töten.
Während Mustafa und Ibo mit der Polizei verhandelten, wurde Ahmet ein neuer Genosse vorgestellt, Mirhat Balık, ein kleiner drahtiger junger Mann, ein Kizilbasch, der bei den Linken İstanbuls als Legende galt. Viele der Geschichten um ihn mussten erfunden sein, dachte Ahmet, ehe er ihn das erste Mal im Kampf erlebte. Er soll am helllichten Tag eine der größten Juweliergeschäfte İstanbuls ausgeraubt und nichts vom Schmuck für sich zurückbehalten haben.
Niemand hatte um seine Unterstützung angesucht, er war einfach aufgetaucht wie ein erfahrener Spezialist, der den göttlichen Auftrag verfolgte, auf die Grünschnäbel, die Ahmet und seine Genossen nun einmal waren, aufzupassen. Niemand wusste zudem, welcher Organisation er angehörte. Dass man ihn nicht als Agent vertrieb, lag an dem guten Ruf, den er überall genoss. Im Vergleich zu ihnen, die nur Pistolen und Mauser hatten, war er bis an die Zähne bewaffnet. Ein Schnellfeuergewehr hing ihm am Rücken, zwei Pistolen steckten im Hosenbund, und eine beachtliche Sammlung an Molotowcocktails und selbstgebastelten Dynamitgranaten hatte er schon in der Dämmerung, lange bevor sie anmarschiert waren, am Fuß eines Sandhaufens in Stellung gebracht. Mirhat Balık war gekommen, um mit ihnen zu sterben. Und er war quietschvergnügt.
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