Alexander spürte einen Anruf, den er erwartet hatte: Das mußte der Gottesbote sein, der Ratschluß, den er erhoffte. Aber zugleich empfand er das alte Mißtrauen, die Angst, in eine Falle zu geraten. Er lasse die Dame bitten, doch nicht ohne Zeugen, sagte er und verlangte ihren Namen. Es sei eine Frau von Krüdener aus dem Baltikum, hieß es.
Und noch ehe Alexander dem Kammerkosaken befehlen konnte, daß er ihm die verwühlten Haare richte, wallte eine dunkelbraune Tüllwoge auf ihn zu, ein schwarzer Schleier wurde zurückgeschlagen, und ein blasses, hageres Gesicht mit umschatteten Augen kam ihm bedrängend nah.
»O Heiliger Rußlands, Retter der Vaterländer, Begnadeter des Höchsten!« hauchte die Frau von Krüdener emphatisch und sank – nicht ohne den Faltenrock anmutig auszubreiten – auf den bettnächsten Sessel.
Als erwünschter Zeuge hätte der Adjudant antreten sollen, aber der argwöhnte in der Dame, trotz ihrer Reife, eine der vielen Liaisons seines Herrn und bat um Dispens.
Dem stimmte die Dame mit schwingender Stimme zu. Sie erinnerte den Zaren an ihre alte Bekanntschaft, die ihm allerdings nicht gegenwärtig war, und beschwor ihren längst von ihr getrennten Gemahl herauf, der als Gesandter Rußlands in Paris und Neapel gewesen war, zählte ihre Kinder und nicht zuletzt ihre zahlreichen Bücher auf und bekannte sich endlich zu ihrer Sendung, deren unausweichlicher Befehl dieser Besuch gewesen sei.
Alexander hörte zuerst nur zu, dann, als die Besucherin doch fragte, ob sie seine Pläne gestört oder ihn aus dem Schlummer gerissen habe, ließ er sich, den Pelzrock öffnend, ihr gegenüber nieder und sagte leise, wie es seine zögernde Art war:
»Sie haben mein Gebet unterbrochen, das mir Kraft von oben geben sollte. Ich habe um einen Rat gefleht …« »O Fügung! Fügung! Dem Himmel sei Dank!« keuchte Frau von Krüdener und strahlte auf. Eben das sei ihr befohlen in ihrer letzten Vision …
Sie könne und dürfe nicht so geradewegs und obenhin beraten und führen, aber anklopfen und mit einer sanften Leuchte das Terrain sondieren, sagte sie bedeutsam, und sie sehe, wie bedrückt die kaiserliche Majestät im Augenblick sei, und fühle, daß solche Bedrückung nicht nur aus der Gegenwart komme …
Auf diese geschickte Anspielung reagierte der Zar mit erschrockenem Kopfschütteln, und Frau von Krüdener wußte sofort, daß sie das Richtige getroffen, »ihn an seiner Achillesferse berührt« hatte, wie sie das bei sich selber nannte.
Denn sie wußte aus ihrer Moskauer Zeit am Zarenhof – man hatte ihr, was sie nicht mitansah, oft genug erzählt –, wie allein das Kind Alexander gewesen, wie es die »alte Zarin«, Katharina, mit einer nahezu rasenden Begeisterung an- und eingenommen und seiner Mutter, der württembergischen Sophie, entfremdet hatte.
Sie wußte von den Eskapaden und Umschwüngen des Vaters, des Zaren Paul, der sich vom Haß seiner gewaltigen Mutter verfolgt fühlte; von seiner Häßlichkeit, die sein Gesicht zu einer verzerrten Maske entstellte, von seiner panischen Angst vor Feinden und Attentätern, von seiner kindischen Preußenbegeisterung und Katharinas Ärger über seinen albernen und oft grausamen Soldatendrill.
Die Dame schaute Alexander an: Auch er hatte wenig von seinem Vater, zu wenig, mußte sie denken und verbot sich den Verdacht gegen die vornehme Sophie. Sie fragte tastend nach seiner Großmutter, die ihr als »leuchtendes Herrscherbild« vor Augen sei.
Alexander war nicht nach Schönfärberei zumute. »Sie kam als kleines mageres Mädchen mit ihrer Mutter Johanna, der Fürstin Anhalt, nach Moskau«, sagte er, als spreche er eine Schullektion vor sich hin, und unterbrach sich gleich:
»Aber das wissen Sie ja alles … auch was dann war – der Zar« (er sagte nicht »mein Großvater«) »der Zar hat sie nicht angerührt, Sie wissen das auch, man wollte den Thronfolger von ihr, man zwang den Zaren nach Paris zu einem jüdischen Arzt, der verschwiegen war – den hat man dann erwürgen lassen, er schwamm in der Seine.« Er stockte und fing an zu zittern. Schweigend ließ sie ihn stammeln und stoßend schluchzen und schwieg beobachtend, bis er sich noch mehr verlor. Dann sagte sie sachlich: »Man meint auch, es habe ihm geholfen, dem Zaren.«
»Danach wurde der Vater geboren«, Alexander sagte das fragend und sah die Krüdener dabei an. Die nickte, obwohl sie genau wußte, was er jetzt fürchtete: daß sie den Grafen Saltykow nenne, aus ältestem russischen Adel, oder einen anderen Liebhaber, den die Großmutter gehabt und dem sein Vater das Leben verdanke. »Aber der Sohn glich doch dem Zaren, Peter dem Dritten!« »Sicher!« bestätigte die Baronin, »und er war Ihr Vater, Majestät.«
Es war eine Zeitlang still, und der Adjudant, dem das nicht geheuer war, steckte lautlos den Kopf durch den Türspalt, den er vorsichtshalber offen gelassen hatte. Er sah, daß der Zar in seinem Morgenmantel – der Zobel schimmerte goldfiedrig auf dem Boden – vor der Baronin in die Knie fiel und heiser herausstieß: »Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen dafür! Ich glaube Ihnen!«
Der Adjudant sah auch, daß die Krüdener den Kopf senkte und im gleichen Augenblick etwas wie ein Triumphlächeln um ihren Mund erschien, ehe ihr Gesicht ihm aus dem Blickfeld verschwand. Sie hatte den richtigen Ton, den rechten Schlüssel gefunden zum Gemüt dieses gescheiten, gelehrten und doch kindlichverletzlichen Menschen.
Sie fuhr also fort, gute Züge im Wesen des armen Paul Petrowitsch zu »finden«, und in der Überzeugung, damit eine christliche Pflicht zu erfüllen, sagte sie etwas über die schwierige und fast unlösbare Aufgabe, ein kaum überschaubares Riesenreich zu regieren, halb verwilderte Bauern, stumpfe, geplagte Leibeigene, noch gefangen in religiösem Zwielicht, und darüber, aufgepfropft, eine intrigante, europäisch gerichtete Hofgesellschaft … sie sagte das ganz offen und beobachtete beruhigt, daß Alexander nickte.
»Peter der Große«, sagte er, »auch seine energische Tochter Elisabeth … die haben doch vieles erreicht, viel Kultur hereingeschafft – es ist so viel gute Düngung in den bereiten Boden gefallen …«
»Gewiß, Majestät, aber nur auf die Oberfläche, die Krume, nicht in die Tiefe und nicht breit genug!«
»Der Vater« – er erschrak selbst, daß er ihn so nannte – »der Vater hat oft so unvorhersehbar und manchmal gar widersinnig gehandelt und befohlen – der Vater …« Er ließ sich lethargisch sinken, er stöhnte halblaut.
Der Adjudant schlich zur Treppe; es kam ihm selbst taktlos vor, weiter zu horchen: Weder eine Liebelei noch eine Gefahr für das Leben des Herrschers drohte da drinnen, höchstens Enthüllungen, die ihn, den Lauscher belasten konnten.
Alexander hatte sich wieder gefangen:
»Wir sondieren ganz gründlich, was ich vorfand …«, stellte er nüchtern fest, »ich muß aber wissen, wo ich weiterbauen kann und wie … Fragen Sie Gott, Baronin, mit mir!«
Das »Amt« der Frau von Krüdener war nicht gerade ein leichtes. Sie fühlte sich als Gottbeauftragte mit der Weisung, die Herrscher Europas zu einem religiös beflügelten Bunde gegen Napoleon zu bewegen, was durchaus in der Luft lag. Und sie erkannte deutlich, daß solches Unternehmen nicht ohne hymnische Begeisterung und göttliche Segnungen zu erreichen wäre, vor allem, da die Völker den Regierenden folgen sollten; und daß in der mystischen Einheit von Fürstenauftrag und Gottesbefehl, in der magischen Begnadung der Herrscher, die stärkste Triebkraft für die Gefolgschaft der Völker lag.
Der alte französische Feudaladel hatte ihre ganze Sympathie, schon aus ihrer Pariser Zeit, wo sie in den ehemaligen Hofkreisen verkehrt hatte, und die Feindschaft gegen den Usurpator, die auch England teilte, schürte sie geschickt mit Hinweisen auf Napoleons Rationalismus und Ungläubigkeit. Sie spürte, wie tief der Zar in eine gefühlige, fast unkontrollierte Schwärmerei versunken war, aber als er – zwiespältig aus Erbgut und Erziehung – dennoch vernünftige, nüchterne Antworten gab, wurde ihr klar, daß nur ein schwerer Schock, ein brutaler Schlag, ihn in ihre Richtung zwingen werde … Sie hatte sich damals mit sanfter Miene und dem Versprechen verabschiedet, mit inbrünstigen Gebeten die gottgewollte Staatsführung zu erforschen und in ständiger Verbindung mit ihm, dem Auserwählten, Begnadeten, zu bleiben.
Читать дальше