„Sind Sie Arzt — oder Gedankenleser?“ fragte Ron, wurde aber doch rot dabei.
„Ja, oder doch ein bißchen von beidem — jedenfalls möchte ich so etwas werden“, sagte er, und sein Gesicht beschattete sich ein wenig, „darüber müssen wir einmal sprechen, Sie und ich. Wenn Sie mögen, heißt das. Ja, essen Sie nun mal sofort weiter, bitte, ja? Ich verspreche Ihnen, daß Sie es nicht bereuen werden.“ „O nein, gut tun wird es mir sicher“, sagte Ron, ein bißchen beschämt, aber doch dankbar — es war kaum zu glauben, wie so ein richtiger Hunger einen um alle noch so guten Vorsätze bringen konnte. Ron konnte sehr schlecht hungern, sie wurde dann sofort matt. Kälte, Arbeit, wenig Schlaf, das alles machte ihr nichts aus oder doch wenig, aber Hunger — ohne Benzin fährt eben kein Auto, sagte sie sich dann immer zum Trost. Ihr wurde auch tatsächlich besser, als sie jetzt, gehorsam, die beiden dickgeschmierten Schnitten verzehrte. Sie hatte sie Wolf und Matthias mitnehmen wollen.
„Sie kommen trotzdem nicht leer nach Hause“, sagte Anders in diesem Augenblick, als habe er tatsächlich ihre Gedanken gelesen, „fragen Sie nur nicht gleich weiter. Ich esse meine ja auch!“ Er lachte. Sie unterhielten sich weiter, bis er plötzlich, noch ehe die Frühstückspause zu Ende war, behauptete, er habe noch rasch etwas zu erledigen, und fortging. Ron sah ihm ein bißchen bedauernd nach.
Und nun stand er vor ihr, gerade als sie ihr Mittagessen gefaßt hatte, einen großen Hängpott voll fetter, gelber, herrlicher Nudelsuppe mit „was drin“. Ein kleiner Schalk saß in seinen Augen, sie sah es genau. Er hatte bis zu diesem Moment gewartet mit seiner Einladung. „Könnten Sie nicht, ich meine, wenn Sie nun bei uns zu Mittag essen, ja, Großmutter rechnet mit Ihnen, ich sag es Ihnen ja, hätten Sie niemanden, dem Sie das Essen hier mitnehmen könnten?“ Er sagte es so nett und lachte dabei. Auch Frau Struve mußte lachen. Und da lachte Ron erleichtert mit — nun dachte Frau Struve also nicht, daß es ein abgekartetes Spiel sei. Sie lachten alle drei, und die rührende runde kleine Frau lief geschwind noch einmal ins Haus und kam mit einer weißen Bluse wieder.
„Da, Fräulein Ron, die wird Ihnen schon passen. Einen Rock kann ich Ihnen nicht dazu geben, er würde Ihnen bestimmt nicht passen —“ sie lachte und klopfte sich auf die runden Hüften.
„Aber die Hose sieht man ja nicht, wenn Sie am Tisch sitzen, und guten Appetit!“
Sie winkte den beiden nach. Anders hatte Ron den Suppentopf abgenommen und trug ihn vorsichtig und sorglich. Es sah ein bißchen komisch aus bei dem großen Jungen und auch ein wenig rührend. Ron ging neben ihm her, die Bluse in der herabhängenden Hand schlenkernd, fast so groß wie er und breitschultrig mit schmalen Hüften, die man auch in der alten und häßlichen Hose gut erkennen konnte. Frau Struve lächelte. Schreckliche Zeiten kommen, Kriege fegen über das Land und entlauben es, Brände legen Städte und Dörfer in Asche, Hunger und Typhus gehen um. Aber mitten aus dem Schutt blüht ein Holunder, und darauf singt ein Vogel, und durch die wildesten und dunkelsten Zeiten gehen zwei junge Menschen, die sich am Tag zuvor noch nie gesehen hatten, und merken nichts von all den Verheerungen um sie her, weil sie selber jung sind wie ein blühender Baum und voller Fröhlichkeit und Sorgenferne wie ein Vogel —
Es muß hier gesagt werden, daß Frau Struve mit ihrem freundlichen Herzen und ihren poetischen Anwandlungen — sie las im Winter mitunter ein Buch, jedenfalls Sonntags — — nicht ganz ins Schwarze traf, wie das manchmal vorkommt. Ron und Anders waren an diesem sonnigen Sonntag zwar jung und froh, aber so ohne Sorgen, wie das von außen schien, waren sie nicht. Ron dachte: ‚Verflixt, wie kommst du in die Bluse hinein, du kannst doch einen dir gestern noch völlig fremden Mann, dessen Eltern dich freundlicherweise zum Essen aufgefordert haben, nicht als erstes nach dem stillsten Gemach dieses gastfreien Hauses fragen. Du hättest diese Verschönerung deines Äußeren bei Struves vornehmen sollen; aber dort warst du aus irgendwelchen Gründen anscheinend geistig umnachtet und nicht voll zurechnungsfähig. Auf deutsch: du hast dich saublöde benommen, und nun ist’s zu spät. Aber den „Sing-Sing“ kannst du unmöglich an die pfarrherrliche Tafel bringen — was also tun?‘
Ja, und Anders, der von diesen Beklemmungen seiner Begleiterin nichts ahnte, dachte seinerseits: ‚Schrecklich nett von Großmutter, daß sie mir das vorschlug. Aber der Himmel gebe, daß sie heute mal nicht Jungchen zu Vater und Schnuck zu mir sagt. Sie wird es zweifellos doch tun. Und das nette Mädel da neben mir wird sich darüber erheitern oder gar mokieren, und es wird nicht merken, wie schwer in Ordnung meine alten Herrschaften im Grunde sind.‘ Es ging steil hinauf zur Pfarre, so steil, daß man abwärts mit dem Rad nicht fahren konnte, sondern absteigen mußte. Anders erzählte davon. Und dann ging es ein Stückchen zwischen Kirche und Lehrerhaus geradeaus. Über dem Gartenpförtchen wölbte ein Tausendblütiger Apfelbaum seine Zweige. Ron erkannte ihn sofort als solchen und vergaß für einen Augenblick ihren Kummer.
„Genau wie zu Hause. Das muß im Frühling eine Pracht sein. Sonst sieht man diese Bäume gar nicht mehr, das müßte Christine sehen, oder Ulla. Meine Schwestern, wissen Sie, sie sind beide jünger als ich. Doch wir haben auch noch einen Bruder, einen kleinen; aber der macht sich aus Apfelbäumen nur etwas, wenn sie tüchtig tragen, und das kann man ja von so einem nicht erwarten.“
Sie traten ein, Anders zog das Türchen hinter sich zu. „Ich dachte mir gleich, daß Sie Geschwister haben“, sagte er leise, und Ron fragte ein bißchen scheu, als er abbrach:
„Sie nicht?“
Er schüttelte den Kopf. Und dann traten sie miteinander in den fliesenbelegten, hellen Flur des Pfarrhauses, beide, ohne das ausgesprochen zu haben, was sie bedrückte.
Es dauerte noch einen Augenblick bis zum Essen, und so konnte sich Ron im Wohnzimmer umsehen. „Es ist unser einziger Raum tagsüber, wir haben, noch drei Flüchtlingsfamilien im Haus“, hatte Anders gesagt, als sie eintraten. Ron nickte. Natürlich. Trotzdem fand sie vom allerersten Augenblick an das Zimmer großartig. Es war wie ein Mensch, dem man sofort gut sein muß, vielleicht, weil er einen halb unbewußt an einen andern sehr lieben Menschen erinnert.
Es war ein großer, niedriger, langgestreckter Raum, und man sah sofort, daß er mehreren Zwecken dienen mußte, aber das störte in keiner Weise. Wohn-, Eß- und Studierstube, Musikzimmer und Arbeitsraum für die Hausfrau: gutgelaunt ist dies alles zu vereinigen. Besonders gut gefiel Ron die eine Ecke; sie war durch das Klavier, das mit der Schmalseite an der südlichen Fensterwand stand, an einer Seite, durch einen niedrigen Tisch von der Zimmermitte her, abgeteilt. Das Klavier war an der Rückwand mit grünem Rupfen bespannt und mit ein paar hübschen Bildern behängt, und auf dem Klavier, auf dem Tischchen und der Fensterbank grünte und blühte es von Zimmerpflanzen, so daß der Pfarrer, der dort zweifellos an dem runden, polierten Tisch seine Predigten schrieb, ganz im Grünen saß, den Blick durch das Fenster hindurch übers Dorf hinweg nach den sanftblauen Höhen jenseits des Waldes gerichtet ...
„Hier muß man wundervoll arbeiten können“, sagte Ron tiefatmend, „hier möchte ich gleich sitzen.“ „Ja?“ fragte Anders lächelnd. Da aber entdeckte sie die Ofenecke und geriet in ein noch größeres Entzücken.
Ein Ofen — welchem Menschen unserer Zeit ist dies noch etwas anderes als ein notwendiges Übel, das Platz wegnimmt und im Sommer von rechtswegen hinausgeworfen gehörte, im Winter eigentlich auch, denn in ein ordentliches Haus gehört Zentralheizung. Dieser Ofen aber war etwas anderes, er war sozusagen die Seele des Zimmers. Ron hatte noch nie einen solchen gesehen.
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