Ron hatte das des öfteren mit Seufzen festgestellt und mühte sich ihrerseits, auch die andern zu verstehen. Sie hätte so gern jedem geholfen, der in Not war — die eigene Not öffnete einem eigentlich von selbst das Herz. — Aber es war fast nicht möglich. Jeder und jede war in dieser harten Zeit so hilfsbedürftig, daß man am liebsten die Augen zugemacht hätte vor dem Elend ringsumher. Aber gerade das durfte man doch nicht.
Auch Matthias gegenüber empfand Ron immer diese Bedrückung. Matthias hatte es ja noch schwerer als sie, er besaß keinen Menschen mehr auf der Welt, der ihm nahestand. Sie hatte doch wenigstens ihre Geschwister. Er aber war aus dem Kriege wiedergekommen und stand allein, ganz allein. Da war es kein Wunder, daß er sich an sie angeschlossen hatte, als sie freundlich und herzlich zu ihm war, eben aus dem Gefühl heraus, daß er noch viel, viel ärmer sei als sie und Christine. Trotzdem bedrückte es sie, wenn sie merkte, wie er an ihr hing.
Aber heute konnte dies alles ihre gute Stimmung nicht beeinflussen. Sollte man nicht einmal von Herzen fröhlich sein, an einem solchen Sonntagmorgen! Es würde ein herrlicher Tag werden. Und jetzt war auch bald Frühstück, da bekam sie zweifellos von Frau Struve eine, wenn nicht zwei oder drei tüchtige Schnitten. Eine aß sie bestimmt sofort und mit Genuß selbst, wo sie doch die andern für Wolf und Matthias einstecken konnte. Und dann waren es noch zwei oder drei Stunden bis Mittag, und dann war sie frei, einen ganzen, langen, unsagbar herrlichen Sonntagnachmittag.
Herr Hupe sah schon nach der Uhr, es mußte bald Frühstück sein. Gerade kamen nicht mehr Bündel, sondern loser Weizen aus der Luke, es war also wieder eine Schicht zu Ende. Ron raffte das Getreide und warf es in die Maschine, ungeachtet der Disteln, die sich ihr dabei in die Haut piekten.
„Nehmen Sie doch die Forke!“ schrie ihr Herr Struve durch den Lärm der Maschine zu, „hier —“
Ron hantierte ungern mit der Gabel hier oben auf dem Tisch, sie fürchtete immer, damit jemand zu verletzen, denn es war eng. Trotzdem nahm sie die Gabel und begann, das Getreide damit einzuwerfen, — sie hatte überhaupt die Gewohnheit, immer den Anweisungen der andern zu folgen; sie verstanden eben mehr von der ihr ungewohnten Arbeit, und man vermied Auseinandersetzungen. Im nächsten Augenblick fuhr sie zu Tode erschrocken aus ihren Gedanken auf: ein ohrenzerreißendes Tettern und Scheppern hallte über den Hof, ließ sämtliche Fensterscheiben des Hauses erzittern und alle Gesichter erblassen, am meisten aber ihr Gesicht.
Du lieber Gott im Himmel, was hatte sie gemacht! Unfreiwillig, aber doch zweifellos sie. Sie hatte eine Gabel in die Maschine geworfen. Vorhin schon, als das erste lose Stroh kam, hatte ihr die neben ihr stehende Frau ihre Gabel gegeben, um einzuwerfen, Ron aber hatte sie wieder weggelegt, weil sie lieber mit den Händen raffte. Nun war diese Gabel unter das lose Stroh geraten, sie hatte sie mit der zweiten Gabel, die ihr Herr Struve zugereicht hatte, mitsamt dem Getreide erwischt und in die Maschine geworfen. O Gott, o Gott, — schon ein Aufschneidemesser hineinfallen zu lassen war Todsünde — daher fürchtete sich ja jeder so sehr vorm Aufschneiden. Aber eine Gabel! Nun zerriß diese womöglich die ganze Maschine; dem Krach nach zu urteilen ohne Zweifel. Ron hatte einen Augenblick lang das Gefühl, als bliebe ihr nun weiter nichts übrig, als sich köpflings nachzustürzen — nie, nie im Leben konnte sie den Schaden wieder gutmachen, den sie jetzt angerichtet hatte ...
„Halt! Halt!“ schrie Herr Struve, so laut er konnte, aber die Maschine lief weiter, das brüllende Scheppern hallte weiter. Noch sah man den Stiel der Gabel im offenen Rachen stecken, er schlug hin und her, sank langsam tiefer ...
Ron war noch nie ohnmächtig geworden in ihrem jungen Leben, jetzt aber hatte sie das Gefühl, als müsse das großartig und die einzige Rettung sein. Wenn sie jetzt umfiel — sie hatte ja früh nichts gegessen, ob ihr das nicht dazu verhelfen konnte? Vielleicht hatten die andern dann Mitleid mit ihr, und sie kam glimpflich davon? Aber sie sah und hörte alles mit der größten Deutlichkeit, den entsetzlichen Krach und die blassen und aufgeregten Gesichter um sie her — nein, sie wurde nicht ohnmächtig. Und warum hielt denn niemand die Maschine an?
In diesem Augenblick stand jemand neben ihr, er mußte wie ein Blitz die Leiter emporgefegt sein. Er griff in die Maschine, was verboten war, erwischte den Stiel der Gabel, zerrte und riß. —
„Weiter im Text“, hörte sie gleich darauf eine lachende Jungmännerstimme, sah ein gerötetes Gesicht und blitzende Zähne und — dem Himmel und allen Nothelfern auf Erden sei tausend und millionenmal Dank — einen beschabten und wie beknabberten Gabelstiel, der nicht mehr in der Maschine steckte, sondern aus ihr herausgerissen war, mit solchem Schwung, daß er um ein Haar den Herausreißenden über den Maschinentisch hinunter geschleudert hätte. Aber das tat er nicht, und der Stiel war da, ohne Zweifel ...
„Und die Zinken?“ fragte sie, schwach, aber doch laut genug, daß der Retter es hören konnte. Er lachte noch mehr. „Die gehn mit durch. Erscheinen in einem Ballen wieder. Wenn schon. In Ordnung.“
Wirklich, es war alles in Ordnung. Die Maschine lief weiter, neue Bündel flogen heraus, Herr Struve legte weiter ein und sah gar nicht einmal so grimmig drein — nach Herrn Hupe zu gucken hatte Ron nicht den Mut. Sie bückte sich und arbeitete wie ein Pferd — hörte kaum, als das Zeichen zum Frühstück gegeben wurde. Sie hätte bis zum Sinken der Sonne weitergearbeitet, wenn es gegangen wäre, nur um ein ganz klein wenig wieder gutzumachen, daß nichts passiert war, daß sie noch einmal glimpflich davongekommen war ...
Aber ich kann doch nicht so —“ sagte Ron. Ich werde wahrhaftig rot, dachte sie und ärgerte sich darüber. Sie sah an sich herunter, an der mitgenommenen Uniformhose mit dem verblichenen Pullover darüber, der, quergestreift, wie eine Sträflingsjacke aussah. „Sing-Sing“, nannte ihn Christine, wenn sie ihn wusch. „Ich seh doch aus wie —“ sie schwieg. Denn in diesem Augenblick fühlte sie, was jede junge Frau mitunter und mit untrüglicher Sicherheit fühlt, daß sie trotz ihrer Aufmachung in diesem Augenblick hübsch aussah, hübsch, was bei ihr im Grunde selten vorkam. Hübsch war in der Familie eigentlich nur Christine, Christine mit dem sanften und feinen Profil, mit dem hellen, ganz glatten Haar und den stillen Augen. Ulla war zum Hübschsein viel zu zerzaust, und Wolf — ach nein, ihn drückte die Schönheit auch nicht. Ron hatte sich nie viel Gedanken um ihre Schönheit gemacht, jetzt aber, unter Anders’ so herzlichem Blick, fühlte sie plötzlich, daß sie hübsch aussah, braun und kräftig und blühend, und daß es ihr stand, so im Räuberzivil zu sein, mit dem feuerroten Kopftuch über dem zerwehten Haar.
„Natürlich können Sie“, sagte er vergnügt, „ich habe Vater schon vorbereitet. Ich hab’ ihm gesagt, es kommt ein ganz besonderer Gast.“
Sie hatten in der Frühstückspause ein bißchen zusammen geschwatzt. Ron hatte sich bedankt für die Lebensrettung — ja, es wäre tatsächlich eine gewesen, denn wenn er nicht gekommen wäre, hätte sie sich bestimmt in die Maschine gestürzt; sie wäre schon nahe daran gewesen. Sie hatten im Hof auf der niedrigen Bank am Waschküchenfenster gesessen und ihre Schnitten gegessen. Anders beobachtete, daß Ron nur eine aß, ganz langsam, während sie die zwei andern neben sich auf der Bank liegen hatte. Als sie die Schnitten schließlich — er selbst sollte es wohl nicht merken, aber er achtete darauf — langsam in die ihm abgewandte Hosentasche stecken wollte, sagte er plötzlich — und da war es, als wäre er nicht zwei, sondern zehn Jahre älter als sie, denn er sagte es zwar lustig und wie im Spaß, aber sie fühlte seinen Ernst darunter sehr deutlich: „Essen Sie mal sofort die Schnitten selbst, Sie haben ja heute früh sowieso noch nichts im Magen.“
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