Nach mehreren Stunden hielt Bill den Wagen für eine Weile an und lief sich die Beine locker. Er kannte die Gefahr tagelanger Fahrten auf schnurgeraden, endlosen Straßen. Unversehens konnte man mit offenen Augen ins Träumen kommen und einschlafen; und mancher Highway-Reisende war schon an einem Meilenstein gelandet oder über die Böschung hinabgerollt.
„Hast du die Meilensteine gezählt?“ fragte Bernd später einmal seinen Bruder.
„Gezählt?“ lachte Peer. „Sieh doch hinaus; die Nummern sind ja angeschrieben!“
Eben kam ihnen am Straßenrand ein neuer Meilenstein entgegen. Bei dem gleichmäßigen Dahinfahren schien es, als ruhe der Wagen und die Welt ringsum sei ins Gleiten gekommen.
„Einhundertachtundvierzig Meilen!“ rief Peer schnell.
Der Fahrer wandte sich den Jungen zu. „Auf Meile einhundertzweiundfünfzig liegt Pikford an der Highway!“
Jetzt spähten vier Augenpaare unverwandt nach vorne. Sie sahen nur weite Prärie, da und dort beginnenden Wald, aber kein Anzeichen, das die Nähe einer Stadt angekündigt hätte.
Als sie die ,Stadt‘ endlich entdeckten, fuhren sie auch schon an den ersten niedrigen Holzhäusern vorüber. Die Siedlung Pikford hatte man mitten im Buschland erbaut. Zwischen den Häusern War hoher Wald stehengeblieben. Das schwächte die Wucht der verheerenden Blizzards im Winter ab. Und außerdem gab es hier übergenug Land für jeden, der sich auf die Dauer in dieser nördlichsten ,Stadt‘ von Saskatchewan niederlassen wollte.
Bill Breuer schaute nach dem Sägewerk Wilkinson aus. Hohe Gebläse-Silos und Berge von Holzstapeln wiesen ihm den Weg. Bernd entdeckte es zuerst. „Dort hinter dem hohen Tannenwald ist Holz gelagert!“ rief er. Sein Vater lenkte den Wagen von der Hauptstraße ab, denn die Highway hatten sie schon vor der Stadt verlassen. Am Ende einer tief zerwühlten Fabrikzufahrt hielt er vor einem endlos erscheinenden Holzgebäude an. Bill fragte sich nach dem Büro der Firma durch und betrat es mit kaum unterdrückbarer Erregung.
„Bill Breuer“, stellte er sich vor. „Ich schloß mit Ihnen einen Kontrakt als Holzfäller.“
Ein riesiger, schon grauhaariger Mann erhob sich von seinem Stuhl und trat ihm entgegen.
„Hallo, Mr. Breuer, Sie haben also Wort gehalten!“ Er schüttelte Bill kräftig die Hand. „Mancher überlegt es sich nämlich im letzten Augenblick wieder anders. Unsere jungen Leute haben keinen Pioniergeist mehr in den Knochen!“
Er betrachtete sein Gegenüber prüfend von oben bis unten.
„Aber Sie werden es sicher schaffen. Das Motorboot mit Treibstoff und Werkzeug liegt schon bereit Wenn Sie sich morgen für Ihre persönlichen Bedürfnisse ein gedeckt haben, können Sie sofort mit Jan Christenson losfahren. Nördlich von Pikford gibt es nämlich keine Drugstores mehr.“\
„Es fährt noch jemand mit?“ fragte Bill und setzte nicht ohne Stolz hinzu: „Ich möchte meinen Ford benutzen, solange es noch eine Straße gibt.“
„Ihren Ford?“ Mr. Wilkinson stutzte. Dann aber lachte er schallend los. „Hinter Pikford enden alle Straßen! Von hier aus bleibt nur noch das Wasser als Reiseweg.“ Nun war die Reihe an Bill, fragend dreinzuschauen. „Soweit ich es von der Karte abgelesen habe, fließt der Saskatchewan River nach Osten. Wir aber sollen doch nach Norden reisen!“
Wilkinson deutete durchs Fenster auf den breiten, fast unbewegten Strom, der jetzt zwischen den Bäumen aufblitzte.
„Jenseits des Flusses beginnt schon der Northwood, doch nördlich von Pikford versperren viele Sümpfe den Zugang. Wir schleichen uns deshalb zweihundert Meilen weit nordostwärts durch eine Hintertür in den Urwald. Nach der Fahrt den Fluß hinab muß sich das Motorboot über viele kleine Seen und natürliche Kanäle nordwärts bis an den Little Bear Lake schlängeln. Dort stehen die Edelkiefern, die Sie fallen werden.“
Bernd, der mitgekommen war, hatte aufmerksam zugehört. Das Ziel der großen Nordlandreise war also der ,Bärensee‘! Er prägte sich diesen Namen gut ein, damit er später den See auf der Karte suchen konnte.
Der mächtige Boß der Firma Wilkinson & Sons fuhr fort: „Sie bekommen für Ihre Arbeit das neueste Modell unserer Einmannsägen. Es ist ein praktisches Gerät mit leicht tragbarem Motor und geringem Treibstoffverbrauch. Sie sägen damit jeden Baum bis zu einem Meter Stärke um – noch dickere gibt es dort oben nicht mehr. Außerdem werden alte Kiefern schnell im Kern krank und hohl.“
Bill Breuer interessierte sich genauestens für sein Arbeitsgerät. „Kann ich in Pikford noch die Säge gründlich ausprobieren? Sicherlich muß ich auch Ersatzteile mitnehmen.“
Der Boß nickte immer zufriedener. „Sie nehmen die Sache ernst; das ist mir sehr heb. Natürlich mache ich Sie gleich mit dem Gerät bekannt. Im Northwood oben stehen Sie allein und müssen sich selber helfen können.“
Bill Breuer fand es nun an der Zeit, von seinen Reisebegleitern zu berichten. „Ich werde nicht ganz allein sein. Meine Frau und meine Söhne begleiten mich.“
Der Mann, der Bill fast um Haupteslänge überragte, zog die Brauen hoch, „Was, die ganze Familie kommt mit? Na, dann sind Sie wenigstens vor dem Einsamkeitskoller sicher. Allerdings ist ein Winter dort im Norden kein Kinderspiel. Ich kann Ihnen nur raten, sich genau an die Bauanleitung des Blockhauses zu halten. Schon viele Holzfäller haben dieses Blockhaus erprobt. Und nützen Sie besonders die Zeit vor den Schneestürmen ausgiebig zum Bäumefallen! Wir rechnen mit einem Einschlag von wenigstens tausend Kubikmetern Kiefernstämmen.“
Bill lächelte zuversichtlich. „In meiner alten Heimat arbeitete ich mehrere Jahre lang in den großen Wäldern. Solche Arbeit ist mir nicht fremd.“
Noch am selben Tag erhielt Bill Breuer eine Anzahlung auf den künftigen Akkordlohn, der nach den Kubikmetern des gefällten Holzes berechnet werden sollte. Er kaufte sich davon Konservennahrung, die er mit seiner Frau schon vor Antritt der Reise zusammengestellt und berechnet hatte. Es war kaum mit einer Rückkehr vor Ende April oder Anfang Mai zu rechnen, bevor nicht das Eis der Seen und Kanäle aufbrach. Jetzt aber hatte der September gerade begonnen. Man mußte also mit acht Monaten Fernbleiben im Norden rechnen.
Aber auch Haushaltsgegenstände durften nicht vergessen werden. Zuletzt gab es eine ganze Liste von allem, was für die langen Wintermonate in die Einsamkeit des Nordwalds mitgeführt werden mußte: Mehl, Kaffee, Zucker, Salz, Dörrobst, Speck, Reis, Bohnen, Käse, Trockenmilch, Hefe, Backpulver, Seife, Streichhölzer, Kerzen.
Dies war eine sehr gemischte Zusammenstellung. Weil die Breuers an einem Wasserlauf wohnen würden, ließ sich auch eine zusätzliche Ernährung durch Fische einkalkulieren, allerdings nur für die Zeit des Herbstes und des Spätwinters, wenn die Wasserläufe von Eis frei waren. Auch Wildbret, das Fleisch von Wildtieren, war erwünscht; man durfte jedoch seinen Nahrungsplan nicht darauf aufbauen. Damit eine Familie ein halbes Jahr sicher durchhalten konnte, mußte die eiserne Nahrungsreserve klug durchdacht werden.
Zum Glück hatte die Firma Wilkinson darin gute Erfahrungen gesammelt. Noch jeder, der für sie in den Nordwald gezogen war, hatte den Winter überstanden.
Mr. Wilkinson griff einfach in die Lade seines Sekretärs und legte Bill Breuer eine feste Aufstellung dessen vor, was ein Mensch im Nordwinter verbraucht. Im Falle Breuer mußte das meiste vierfach angeschafft werden.
Für den Rest des Nachmittags schleppte die Familie ihren Proviant von den Stores der Stadt Pikford zum Motorboot am Ufer des großen, fast unbewegt dahin ziehenden Saskatchewan River. Mit heimlicher Erregung blickten sie auf das jenseitige Ufer, auf dem der Northwood, der unendliche Wald, anfing, der erst viele hundert Kilometer weiter nördlich in die Tundra überging.
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