1 ...7 8 9 11 12 13 ...17 Doch heute kam ihm seine Schwester zuvor.
»Lass nur«, sagte Anna. »Du kommst noch zu spät zum Spiel.«
Das Spiel! Es durchfuhr ihn regelrecht. Dexel noch to! Das habe ich ja ganz vergessen!
Anna bog den Rücken durch. »Es geht schon wieder«, fuhr sie fort und erhob sich von ihrem Stuhl. Sie war genauso dürr wie Frerichs, übertraf ihn an Größe sogar um wenige Zentimeter.
»Lass mich bitte allein«, bat sie ihren Bruder. »Ich wünsche dir einen schönen Abend. Auf dass St. Pauli gewinnt.«
»Wirst du zurechtkommen?«, erkundigte er sich besorgt. Anna musste sich schon sehr sorgen, wenn ihr das sogar auf den Kreislauf schlug. Sie nickte matt.
Frerichs ging in seinen Wohntrakt hinüber. Im Wohnzimmer machte er Licht und schaltete den Fernseher ein. Aus dem Kühlschrank, der in der Stollenwand eingebaut war, holte er ein Fläschchen Bier und setzte sich in seinen Sessel. Gerade liefen die Spieler ein. Just in time! Perfekt!
In der Halbzeitpause stopfte er sich seine Pfeife. Dazu mischte er ein wenig des Harzes aus seinem Taschentuch unter den Tabak. Seine spezielle Hausmischung, wie er sie gerne nannte. Mit seiner Pfeife ging er auf die Terrasse hinaus und zündete den Tabak mit einem Streichholz an. Süßlich-herber Rauch entstieg dem Pfeifenkopf. Frerichs blickte in den sternenklaren Himmel hinauf. Diese Momente der Freiheit genoss er, wann immer sich Zeit dafür fand. Die kleinen Freuden sind doch die Besten!
Er würde Fokko morgen etwas von seinem Harz bringen, dachte er versonnen. Sein Stoff war auch nicht schlecht!
Schon fühlte der hagere Mann, wie seine Gedanken leichter wurden. Die Trübsal wich und machte heiterer Gelassenheit Platz. Bestimmt sorgte sich Anna grundlos um Tjark und Loger. Junge Leute halt. Sie dachten nicht darüber nach, dass ihr Handeln rücksichtslos und egoistisch war. Sie lebten ihr Leben.
Die Jungen
Mittwoch, 07. Oktober 2015
Am nächsten Morgen wehte ein stürmischer Wind. Frerichs zog die Schirmmütze tiefer in die Stirn, stemmte sich kräftig gegen die Tür. Der Wind hielt seinen Druck stand. Frerichs musste sich mächtig anstrengen, um zu gewinnen. Als es geschafft war, trat er hinaus auf den Hof.
Anna winkte ihm zum Abschied. Ihre Augen wirkten verquollen. Er bemühte sich, über die feuchten Rinnsale in ihrem Gesicht hinweg zu sehen.
Er hob die Hand, startete seine Maschine und rollte vom Hof. Wieder hingen dunkle Regenwolken am Himmel.
Doch auch Sonnenschein hätte heute seine trübe Stimmung nicht vertreiben können. Eine schwierige Aufgabe lag vor ihm.
»Halte nach einem abgeknickten Schild Ausschau.« Annas Worte begleiteten ihn, gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf.
Frerichs fuhr zur Poststation von Ölbenfehn. Er schloss die Tür zur Amtsstube auf. Abgestandene Luft schlug ihm entgegen. Rasch schaltete er alle Lichter an. Mit einem gutvernehmlichen Klicken sprangen die Neonröhren an und verbreiteten ein unangenehmes aber helles Licht. Frerichs kniff die Augen zusammen und ging in die winzige Teeküche, wo er die Kaffeemaschine in Gang setzte. Während sie gluckerte, fuhr Frerichs den alten Computer hoch.
Jeden Tag überprüfte er zuerst die Emails, sah sich die Anrufliste an; doch sie war leer. Das war nicht ungewöhnlich. Dafür hatte das Faxgerät ein Blatt Papier ausgespuckt. Es stammte von der Polizei aus Wittmund. Die Suchmeldung nach Loger Doormann und Tjark Coordes, den beiden Verschwundenen. Waren sie also doch nicht nach Hause gekommen!
Himmel! Lass sie noch am Leben sein, dachte Frerichs und schickte ein Stoßgebet zum Allmächtigen hinauf. Frerichs erledigte noch ein paar Telefonate und schaffte lästigen Papierkram fort. Bürokratischer Müll, weg damit!
Gegen zehn packte er seine Posttasche und fuhr los.
Nach Ochterfehn, um die längst überfällige Abgassonderuntersuchung durchführen zu lassen. Der hiesigen Werkstatt vertraute er seine Maschine ungern an. Die Mechaniker kifften ihm einfach zu viel!
Frerichs lenkte seine BMW auf die Bundesstraße 29 in Richtung Ochterfehn. Hin und wieder blinzelte die Sonne zwischen den Wolken hindurch. Der Wetterbericht hatte ein paar Stunden Sonne in Aussicht gestellt. Wie so oft wunderte sich Frerichs, wie schnell seine Stimmung sich änderte, wenn die Sonne sich zeigte. In Abhängigkeit von Wärme und Helligkeit reagierte auch seine Psyche. Ihm wurde leichter ums Herz. Hoffnung keimte in ihm auf. Noch war alles möglich!
Neben der Landstraße schlängelte sich der Fehnkanal in seinem Bett. Ein breiter Streifen glitzernden Wassers war gleichauf mit ihm. Frerichs verspürte Lust, mal wieder angeln zu gehen. Die Ruhe würde ihm sicherlich guttun, dachte er versonnen. Vielleicht würde es sich am Samstagnachmittag einrichten lassen?
Die Reflexionen auf dem Wasser hatten etwas Beruhigendes. Ein paar Stunden stillen Angelns und er käme als frischerholter Mensch zurück. Früher war es oft so gewesen. Danach sehnte sich Frerichs plötzlich zurück. Mit einem Mal konnte er das Wochenende kaum mehr erwarten.
Bewegungen auf der Straße vor ihm erregten seine Aufmerksamkeit. An einer Stelle tummelten sich schwarze Silhouetten. Beim Näherkommen erkannte er Krähen. Sie zerrten mit ihren Schnäbeln an etwas, das auf dem Asphalt klebte.
Als er sich ihnen knatternd näherte, erhoben sie sich widerwillig. Manche hüpften ein paar Meter zur Seite. Andere flatterten aufgeregt in die Bäume hinauf.
Das was da lag, mochte einmal eine Katze gewesen sein, jedenfalls der Größe nach. Die Fellzeichnung war schwarz-weiß. Schrödingers Katze fiel ihm dazu ein. War die nicht verschwunden?
Frerichs hielt neben dem Kadaver. Über sich hörte er den vielstimmigen, krächzenden Chor. Er blickte zu den Vögeln hinauf.
»Ihr könnt gleich weiter frühstücken«, rief er zu den Tieren hinauf. Er mochte die schwarzen Gesellen wegen ihrer Klugheit und Neugierde. Viele von ihnen besaßen mehr Grips als so mancher Mensch. Er warf noch einen schnellen Blick nach allen Seiten, dann fuhr er gemächlich weiter.
Er war noch keine hundert Meter weitergefahren, als er es sah: neben der Straße. Der abgeknickte Pfahl. Das Warnschild vor dem Wildwechsel ragte in den grauen Himmel. Neben der Straße auf einer Höhe von etwa einem halben Meter war der Pfahl geknickt. Das dreieckige Straßenschild, das auf einen Wildwechsel hinwies, zeigte in den grauen Himmel.
Sein Puls beschleunigte sich sofort. Hatte Anna also wieder einmal recht gehabt! Frerichs löste den Sicherheitsgurt, bockte den Roller auf, blickte sich nach den Bäumen um.
Rechts von ihm stand in relativ großer Entfernung eine Schonung schlanker, noch junger Buchen. Die konnte Anna doch unmöglich gemeint haben. Das waren doch bestimmt an die zwanzig Meter!
Frerichs hockte sich vor das beschädigte Verkehrsschild hin. Über den geknickten Pfahl hinweg visierte er das Wäldchen an. Kimme und Korn, genauso wie er es auf der Kirmes machte.
Die Buchen waren größtenteils noch grün mit wenigen herbstlich bunten Sprenkeln. Er ächzte, als er sich erheben wollte.
Frerichs blickte die Straße hinunter. Doch auf diese Entfernung waren Bremsspuren nicht zu entdecken. Er musste den Weg zurückgehen. Er ließ seine Maschine stehen und ging bis zu dem Kadaver zurück. Die ganze Zeit hielt er den Blick auf die Straße gesenkt. »Keine Bremsspuren?«, wunderte er sich. »Jungs, ihr kennt euch doch hier aus!« Er führte oft Selbstgespräche. Das half ihm, seine Gedanken zu ordnen. So fielen ihm oft erst dann Ungereimtheiten oder Logiklöcher auf. Onno führte sich die Situation bildlich vor Augen und plötzlich befand er sich mitten im Geschehen: Nachtschwärze hüllte alles ein. Ein Lichtkegel tauchte vor ihm auf. Der Ford Capri näherte sich ihm. Er trat instinktiv einen Schritt weiter auf die Straße. Frerichs blinzelte im blendenden Licht der Scheinwerfer, als der Capri auf ihn zugerast kam. Er machte sich bereit. Für einen Sekundenbruchteil sah er durch die Windschutzscheibe in die Gesichter der jungen Männer. Der Wagen hielt weiter auf ihn zu. Frerichs fühlte keine Angst, fand das alles doch nur in seiner Einbildung statt. Wie eine Zeitreise, die er in Gedanken machte. Er wollte verstehen, wie es zu dem Unfall gekommen war.
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