Frerichs überlegte, ob er eine Flasche Wasser dabeihatte, und ging zu seiner Maschine zurück. Dabei warf er einen Blick auf sein Mobiltelefon. Einen Balken zeigte das Display an. Es war einen Versuch wert. Er scrollte durch das Menü und fand die Nummer des Doc. Als der Anruf erledigt war, fand er eine halbe Flasche schalen Wassers in der Seitentasche. Nicht einmal der Geschmack der Plörre störte Frerichs. Mit dem Wasser spülte er sich den Mund aus. Dann wartete er.
Der weiße Opel Insignia von Dr. Martin Bleeker stoppte eine Viertelstunde später vor seiner Maschine. Bleeker war ein gut gebauter, etwas korpulenter Endvierziger, mit rundem, freundlich wirkendem Gesicht.
Frerichs kannte Bleeker seit dieser vor fünf oder sechs Jahren von Hamburg hergezogen war. Der Doc war damals nah dran gewesen, den Job an den Nagel zu hängen. Er nahm nie das Wort ›Burnout‹ in den Mund. Aber so nannte man das heutzutage. Entschleunigung war das, was Bleeker heute brauchte und in Ölbenfehn fand. Er arbeitete noch immer. Wenn auch bei Weitem viel weniger als früher. Bei einem Bier hatte Bleeker Frerichs einmal anvertraut, dass er erst hier in Ölbenfehn gemerkt hatte, was es hieß, glücklich zu sein. Geld bedeute ihm heute weniger, als noch vor ein paar Jahren.
Bleeker warf die Autotür zu. Er schüttelte sich und schlug demonstrativ den Kragen seiner Regenjacke hoch. Sein freundliches Gesicht zeigte grimmige Entschlossenheit. In seinem Blick erkannte Frerichs Ärger. Ohne Gruß kam der Mediziner sofort zur Sache: »Okay, Frerichs, spuck’s aus. Was hast du?«
Statt einer Antwort rieb sich Frerichs den Bauch. Sein flauer Magen hatte sich noch immer nicht beruhigt.
Bleeker sah Frerichs unbewegt in die Augen. Doc war mit der Gabe gesegnet, sich voll und ganz auf eine Sache konzentrieren zu können.
»Du hast da noch was«, sagte Bleeker und deutete auf Frerichs Mund. »Hast du gekotzt? Und was hast du überhaupt mit deinen Händen gemacht? Motorradunfall?«
Frerichs nickte matt. »Weißt doch, dass ich kein Blut sehen kann!«
»Wo kannst du kein Blut sehen?«, erkundigte sich der Arzt.
Frerichs wies mit dem Daumen hinter sich. Bleeker hob den Kopf, blickte über Frerichs Schulter. »Im Wäldchen?«
Frerichs nickte dumpf. »Ich habe die Jungs gefunden!« Seine Stimme klang merkwürdig hohl.
Bleeker schenkte ihm ein Stirnrunzeln. »Meinst du den Coordes und seinen Kumpel?« Frerichs wusste, was der Doc dachte. Doch Bleeker tat ihm nicht den Gefallen, zu fragen, wie Onno auf die Idee gekommen war, im Wäldchen zu suchen. Gut. Dann mache ich das später, wenn mich jemand fragt. Frerichs nickte knapp.
Bleeker setzte sich eilig in Bewegung. Er holte seine Arzttasche aus dem Auto und kehrte wenig später zurück.
»Sag mal, hast du eine Kamera dabei, Doc?« Frerichs hatte sich nicht getraut, Fotos mit seinem Handy zu machen. Das hätte bedeutet, sich wieder dem Wrack zu nähern und sich mit dem Inhalt zu beschäftigen.
»Habe ich immer dabei«, antwortete Bleeker großspurig. Unvermittelt hielt der Arzt in der Bewegung inne. »Hast du schon die Polizei gerufen?«, erkundigte er sich.
Darüber hatte Frerichs noch nicht nachgedacht. Für eine Obduktion besaß Ölbenfehn weder das Personal noch die Ausrüstung. Er bezweifelte, dass Bleeker sich dazu in der Lage sah. Er war Allgemeinmediziner. Kein Gerichtsmediziner.
»Sieh dir die beiden an. Die Bilder kriege ich nie wieder aus dem Schädel.«
Er blieb in gebührendem Abstand stehen, beobachtete Bleeker einfach. Frerichs bewunderte den Mediziner im Stillen für seinen Mut, sich dem Anblick freiwillig auszusetzen.
Bleeker stellte sich vor die Windschutzscheibe und warf einen Blick hinein. Kein Muskel regte sich in seinem Gesicht. Sein Beruf hatte ihm schon manches Schlimme gezeigt.
Er ging um den Wagen herum, blickte durch alle Fenster. Dann begann er, Fotos zu machen.
Als Frerichs einen Blick auf das Gesicht des Doktors erhaschte, erwiderte Bleeker seinen Blick. Er fluchte mit einem grimmigen Zug um den Mund.
Frerichs kam sich feige dabei vor. Wie ertrug Bleeker diesen Schlachterhorror?
Bleeker nickte: »Polizei, SpuSi, Gerichtsmedizin, keine Frage. Eine Obduktion ist Pflicht.«
Der Doc schürzte die Lippen. »Ich verständige die Kollegen aus Wittmund.« Frerichs blickte ihm nach, wie er zur Straße zurückging, um von dort zu telefonieren. Er selbst blieb im Wäldchen. In ausreichender Entfernung zum zerstörten Capri lehnte er sich gegen einen Baum. Er wollte keine Spuren vernichten. Frerichs wusste, dass das großen Ärger bedeuten würde.
Er hielt den Blick vom Unfallwagen abgewandt. Auch wenn er der Meinung war, dass die Toten nicht allein sein sollten, vermied er ihre direkte Nähe. War dieser Gedanke verrückt? Doch er blieb. Er entschied oft aus dem Bauch heraus. In der Vergangenheit hatte er selten daneben gelegen. Er glaubte, dass seine Schwester Anna genauso handeln würde.
Ein Gedanke alarmierte Frerichs. Er richtete sich auf. Er musste noch vor dem Eintreffen der Polizei, den Unfallort absichern!
Frerichs hastete zur Straße zurück. Aus dem Kofferraum seiner C1, so nannte er den Kasten am Heck seiner Maschine, entnahm er rot-weißes Absperrband. Das führte er immer mit sich, schadete ja nichts. Er eilte zum Wrack zurück, knotete das Band in Bauchhöhe an den umstehenden Baumstämmen fest und sicherte dadurch einen Radius von etwa zwanzig Metern um das Unglücksfahrzeug herum. Frerichs stapfte zur Straße zurück. Dann begann wieder das Warten.
»Sie schicken einen Wagen!«, informierte ihn Bleeker lakonisch mit einem Blick auf seine Seiko Uhr. »Eine halbe Stunde. Dann sind die da.«
Frerichs nickte stumm anstelle einer Antwort. Dieses tatenlose Rumstehen ging ihm auf den Keks.
Auf der Suche nach einer Packung Tabak klopfte er seine Taschen ab. Zu seiner maßlosen Überraschung fand er in seiner Windjacke noch eine alte Schachtel Camel. Es war schon Urzeiten her, dass er filterlose Zigaretten geraucht hatte.
Wie alt mochten die Zichten sein? Vorsichtig befühlte er den Inhalt. Wenn er Glück hatte, war noch eine drin. Er hatte doppeltes Glück. Frerichs schüttelte eine heraus und betrachtete sie von allen Seiten.
»Das ist meine«, befand Bleeker und entwand ihm geschickt die krumme Zigarette. Frerichs sah ihr enttäuscht nach. Doch er besann sich eines Besseren und ließ diesen gemeinen Mundraub ungesühnt. Wenn der gute Bleeker sich für die Kostprobe opfern wollte, würde er ihm nicht im Wege stehen. Schließlich war es nicht auszuschließen, dass Doc schlecht wurde.
Bleeker steckte sie sich in den Mundwinkel. Krumm und schief, einem Tentakel nicht unähnlich, ragte sie aus seinem Gesicht. Der Anblick trieb Frerichs die Lachtränen in die Augen. Doch er zwinkerte sie fort, bemühte sich um Contenance. Aus einer Beintasche seiner Jeans förderte er ein Zippo zutage.
Dieses besondere Benzinfeuerzeug symbolisierte den American Way of Life, jedenfalls für alle Raucher, die sich ein stabiles Feuerzeug wünschten.
Es machte das typische, metallische KLONG, als er den Deckel mit dem Daumen öffnete und ein RITSCH, als das Rädchen in Bewegung gesetzt wurde, das über den Feuerstein fuhr und den Funken erzeugte. Die Flamme zitterte, ein Hauch von Benzin in der Luft hinterlassend.
Bleeker bewegte seinen Kopf auf Frerichs zu. Die Augen zu Schlitzen verengt, die Lippen fest zusammengepresst. Er tauchte die Camel in die Flamme ein. Als sie aufglomm, zog er den Kopf zurück. Der Doktor sog den Rauch tief ein.
Jetzt konnte es nicht mehr lange dauern, dachte Frerichs und ließ den Arzt nicht aus den Augen. Mit einem wohligen Seufzen entließ Bleeker den Rauch aus seinen Nasenlöchern.
»Schmeckt sie noch?«, erkundigte sich Frerichs scheinheilig.
Er rechnete fest mit dem Gegenteil und zählte im Stillen die verbleibende Zeit: »Fünf, vier …« In drei Sekunden wäre es soweit! Die Tränen würden ihm wie die Niagara-Fälle aus den Augen schießen! »Drei, zwei, eins!« Doch mit einem Mal beschlichen Onno Gewissensbisse.
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