»Frau!«, rief Lübbe. »Was ist in dich gefahren?«, rief er vergnügt und zwinkerte. Gretje gluckste noch immer vor Lachen.
»Schon immer wusste ich, dass ihr Beiden einen tollen Humor habt. Aber das …« Sie zeigte zum Haus hin. »… hätte ich euch nie zugetraut!«
Lübbe und Frerichs wechselten einen fragenden Blick. Woraufhin Gretje einen neuen Lachanfall bekam und sich im Gras wälzte. Sie klopfte mit den Händen auf den Boden. »Setzt euch.«
Die beiden Freunde wandten sich zum Haus um. Einen Moment lang war Frerichs regelrecht schockiert, dann amüsiert und im nächsten prustete er los vor Lachen. Er hielt sich den Bauch. Lübbe neben ihm starrte ebenfalls fassungslos das Haus an. »Shit!«
Frerichs ploppte sein Bier auf und trank die Flasche bis zum letzten Tropfen aus. Er rülpste leise »Das ist Kunst!«
Lübbe, noch immer sprachlos, drehte sich zu ihm um. »Genau, das ist es. Die Farben habe ich doch gut ausgesucht, oder?«
»Das war nie und nimmer deine Absicht, Mann!«, widersprach Gretje lachend. »Grün, allein für sich, in Ordnung. Das gleiche gilt für blau. Aber zusammen? An einem Haus? Nee! Lieber Mann. So nicht!«
Frerichs war derselben Meinung. Klassisch war das nicht! Lübbe hatte ihm den Pott Farbe in die Hand gedrückt. Ohne Kommentar. Frerichs war einfach davon ausgegangen, dass er denselben Farbton hatte, wie Lübbe.
An diese Episode dachte Frerichs immer gerne zurück. An das, was folgte, nicht.
Ein Versprechen hatte ihm sein Freund Lübbe damals abgenommen. Nach dem Gespräch über Lübbes Bauchspeicheldrüsenkrebs, der nicht mehr operiert werden konnte. Frerichs erinnerte sich, als hätte es erst gestern stattgefunden. Er wusste noch, wie irritiert er nachgefragt hatte.
»Gretje wird einsam sein. Sei ihr ein guter Freund. Sie mag dich. Tu’, was ich auch tun würde, wenn du an meiner Stelle den Löffel abgeben müsstest.«
Versprechen muss man halten und das tat Frerichs seit Lübbes Tod, so wie heute.
»Al up steh, Gretje!«, rief Frerichs und betrat das Haus. Die zwei Briefe legte er auf den Küchentisch. Gretje schien ihn bereits gesehen zu haben, denn die Haustür war unverschlossen. Gretje stand in der Küche, wandte ihm aber den Rücken zu. »Moin, moin, Onno. Danke für die Post. Hast du Zeit für einen Tee?«
»Wenn du meine Gastgeberin bist immer!«, antwortete Frerichs gut gelaunt.
Mit einem strahlenden Lächeln drehte sie sich zu ihm um.
Sie trug wieder eine bunte Bluse mit Blumenmotiv. Die obersten drei Knöpfe waren offen. Ein Anblick, der sich lohnte. Frerichs genoss ihn still.
»Aber vorher bist du bitte so nett und hilfst mir bei einer Kleinigkeit, ja?« Frerichs folgte Gretje die Treppe hinauf. Wieder genoss er jede Sekunde ihres Anblicks. Im Flur drehte sie sich zu ihm um.
»Hilfst du mir beim Reißverschluss?«
Frerichs sah sie verdutzt an. Dann grinste er. »Gerne. Aber du weißt schon, dass du eine Bluse trägst, oder?«
Gretje zog die Augenbrauen hoch. »Ja, aber der Rock hat einen und außerdem ist es mal wieder Zeit!« Dem ließ sich nichts mehr hinzufügen. Ihr letztes Mal war bestimmt zwei Wochen her.
Feuchtes Grab
Nach der kleinen Auszeit bei Gretje setzte Frerichs seine Tour fort. Er hatte noch eine Menge Werbesendungen zu verteilen. Das meiste davon ging sowieso ungelesen in die Wertstofftonnen. Was für eine Verschwendung! Machte sich das denn niemand klar? Die Herstellung dieses Drecks kostete eine Unmenge an Rohstoffen und Energie. Außerdem war es eine bodenlose Sauerei, dass er den Mist auch noch verteilen musste!
»Komm Frerichs! Weg mit der miesen Laune!«, rief er sich selber zu. »Lass dir den Tag nicht verderben. Trag den Schrott aus. Dann is’ goot!«
Frerichs pfiff eine lustige Melodie, als er den Hof von Hilde Meents erreichte. Sämtliche Butzenscheiben des Fachwerkhauses waren dunkel. Das war ungewöhnlich. Hilde war eine echte Friesin. Hochbetagt endete ihre Nacht nie später als um sechs Uhr morgens. Nie hatte Frerichs sie krank oder gar mit schlechter Laune erlebt. Das unterschied sie deutlich von ihm selbst. Letzteres beschäftige ihn regelmäßig, montags und mittwochs. Das ging mit den Reklamesendungen einher.
Frerichs parkte sein Motorrad vor der Garage. Aus seiner Posttasche fischte er die Telefonrechnung, ein weiteres Kuvert und wandte sich zum Seiteneingang. Er betrachtete die ungelenken Buchstaben auf dem geblümten Umschlag. Vielleicht ein Geburtstagsgruß von der Enkelin? Aus der rechten Posttasche zog Frerichs noch eine Werbetüte hervor. Der Briefkasten war groß genug, um alle Post zu fassen. Obwohl keiner zu Hause zu sein schien, drückte Frerichs den Klingelknopf. Er war ein altmodischer Bote und überreichte die Post stets persönlich. Eine gewisse Fürsorgepflicht oblag ihm als Sheriff eben auch.
Zu Frerichs Verblüffung öffnete Hilde nicht. Frerichs klingelte nochmals. Wieder wartete er gut eine Minute. Die Zeit kam ihm wie eine Ewigkeit vor.
»Hallo Hilde, ich bin es, Onno!« Frerichs legte ein Ohr an die Tür. Doch es drang kein Laut zu ihm.
Er lenkte seine Schritte zur Rückseite des Hauses. Er hoffte auf ein Fenster, durch das er ins Haus spähen könnte. Vielleicht war auch die Terrassentür offen? Frerichs würde das Haus einfach betreten und nachsehen, ob Hilfe von Nöten war.
Auf der Rückseite des Hauses kam er am beleuchteten Badezimmerfenster vorbei. Frerichs blieb überrascht stehen. Demnach war Hilde auf. Weshalb öffnete sie dann nicht? Er rief noch einmal. Doch sie antwortete nicht. Dafür vernahm er ein anderes Geräusch. Ein fernes Rauschen. Er trat näher ans Fenster, drückte seine Nase gegen die Scheibe. Doch durch das Riffelglas war nichts zu erkennen. Seine Neugierde wuchs mit jeder Sekunde. Frerichs klopfte gegen das Fenster. Wieder antwortete niemand.
Nun war er richtiggehend besorgt. Er umrundete das Haus schnellen Schrittes. Er würde sich Zutritt zum Haus verschaffen. Notfalls mit Gewalt!
Doch wo richtete er den geringsten Schaden an? Die Terrassentür war verschlossen. Wegen der großen Glasfläche zögerte Frerichs. Die kam nicht in Frage. Er ging weiter. Wenn sich alles als Missverständnis entpuppen sollte, würde er tief in seine private Tasche greifen müssen und das galt es zu vermeiden oder zu minimieren. Er nahm seinen Beruf ernst. Doch privates Geld war privates Geld!
Die Küchentür! Die Glasscheibe war entsprechend klein. Mit dem Ellenbogen ließ sie sich problemlos eindrücken. Das zerbrochene Glas protestierte nur mit einem leisen Klirren. Da die Nachbarschaft an die fünfhundert Meter entfernt wohnte, würde es niemand gehört haben.
Frerichs steckte eine Hand durch die Öffnung. Die Tür war verschlossen! Der Schlüssel steckte und einen Augenblick später sprang die Tür auf.
Frerichs betrat die Deele.
»Moin, moin, ich bin’s Onno«, rief er besorgt. Doch wieder blieb alles ruhig. Er blieb stehen, lauschte angestrengt. Außer dem Ticken einer antiken Standuhr, die er nicht sehen, dafür aber gut hören konnte, rührte sich nichts.
»Hilde?«, fragte Frerichs in die Stille hinein. »Wo bist du? Ist alles in Ordnung?«
Frerichs sah sich aufmerksam um. Doch es wirkte alles wie immer. Keine Unordnung. Von den Wänden her blickten ihn dutzendfach Hildes Familienmitglieder an. Gesichter, denen man ansah, dass sie nicht oft lachten. Frerichs erkannte Ubbo und Jibbe, Freunde aus Kindertagen, die ihre Arme um gut aussehende Frauen gelegt hatten. Eindeutig angeheiratet, dachte Frerichs bei ihrem Anblick. Keine einzige besaß rote Haare, wie es die Meents vererbten. Die Enkel grinsten ungeniert in die Kamera.
Frerichs nahm einen schwachen, undefinierbaren Geruch wahr. Entfernt erinnerte ihn dieser an seinen letzten Besuch im Auricher Hallenbad. Merkwürdig!
Als er auf seinem Rundgang den Wasserdampf bemerkte, der schwer wie Gewitterwolken in der Luft hing, wusste er plötzlich, dass etwas passiert sein musste. Jetzt war Eile geboten!
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