Abb. 1: Scaffolding durch ein Lerngerüst
Mit diesem Hinweis wird auch klar, dass es nicht das eine verbindliche Rezept für den guten Unterricht geben kann. Doch es bestehen bewährte Ansätze, die auf die virtuelle Lernwelt zu übertragen lohnenswert sind. Denn sie formulieren Prämissen, die unabhängig von Alter und Schulart sowie ebenso von Unterrichts- und Studienfach gelten. Ein weitestgehend geteiltes pädagogisches Axiom ist das Verständnis von Unterricht als Bildungsgeschehen. Wird dieser Auftrag vom Lehrenden verinnerlicht, so wird bereits dieser Begriff fragwürdig, da sich das „Lehren von etwas“ bereits auf die Prozesshaftigkeit des „Lernens von“ verschiebt. Insofern ist es konsequent, wenn die Erziehung zur Selbstständigkeit als eines der nächsten Ziele abgeleitet wird. Wolfgang Klippert hat diesen Ansatz zu den Visualisierungen „Lernspirale“ und „Haus des Lernens“ ausgebaut (vgl. Klippert, 2001). Beide sind aufgrund ihrer Bildsprache anschaulich und eingängig: Mit Hilfe der Lernspirale „bohrt“ sich der Lernende in seiner Geschwindigkeit in das Thema – im besten Fall in eine für ihn individuell motivierende Herausforderung – hinein. Um dieses komplett „gebohrt“ zu bekommen, bedarf es mehrerer Schritte, auch des „Herausziehens“ des Werkzeuges, sodass sich diese Methode durch ihre Strukturierung und ihre bewusste Mehrstufigkeit – in Analogie zum Werkunterricht: Anreißen, Vorbohren, Nachbohren, Entgraten – auszeichnet. Ein solches Vorgehen ist zudem nur durch eine Mischung aus Schüleraktivierung, individualisiertem und kooperativem Lernen möglich. Es braucht Phasen der Begleitung und Förderung, Zeit für Rückfragen und Bestätigung. Somit fordert Klippert bereits mit dieser – einen – Methode Kompetenzorientierung. In seinem Haus des Lernens bringt er diesen Ansatz in eine Struktur: Das eigenverantwortliche Arbeiten und Lernen – „EVA“ – gelingt nach Klippert dann, wenn Fach-, Sozial- und Methodenkompetenz gleichwertig im Bildungsprozess berücksichtigt werden. Die Lernarbeiten der Schüler und die Organisationsformen des Lernens werden so gewählt, dass sie alle drei Kompetenzen gleichermaßen erfüllen. Das pädagogische – bildlich im Dachgeschoss angesiedelte – Ziel so verstandenen Lehren und Lernens ist die ausgeprägte persönliche Kompetenz des Schülers mit fundierten, fachlich übertragbaren Schlüsselqualifikationen.
Forscher wie Franz Weinert unterstützen diesen praktischen Ansatz, wenn sie fordern, „träges Wissen“ in „intelligentes Wissen“ zu überführen, ebenso Neurowissenschaftler wie Manfred Spitzer, wenn sie vom Aufbau „synaptischer Wissensstrukturen“ sprechen. Doch was bedeuten diese Erkenntnisse in der unterrichtlichen Praxis? Selbststeuerung und Handlungsorientierung, die Balance von Schüleraktivierung und Lehrerlenkung, ebenso von Fordern und Fördern, eingeleitet durch gute Inputs, unterstützt durch wechselnde Sozialformen, mit Zeit zur Kooperation und zum eigenständigen Üben und Vertiefen, und immer wieder Feedback.
An dieser Aufzählung wird deutlich, dass guter Unterricht eine Kunst ist. Er gleicht einem guten Klavierstück, das zwar jedes Mal nach denselben Noten vorgetragen wird, das sich aber immer neu und variiert darstellt. Insofern erscheinen wesentliche Leitkategorien – gleichsam als „Gerüst“ – auch für Lehrende in ihrer Aus- und Weiterbildung sinnvoll.
Der Unterrichtsforscher Andreas Helmke fasst seine Untersuchungen in zehn Merkmalen guten Unterrichts zusammen:
1. effiziente Führung der Lerngruppe unter Berücksichtigung der Zeitstruktur,
2. ein lernförderliches Unterrichtsklima,
3. Motivierung auf vielfältige Weise,
4. verlässliche Struktur und Klarheit,
5. Wirksamkeit und Kompetenzorientierung,
6. Schülerorientierung und individuelle Unterstützung – in weiterführender Literatur als Lerncoaching bezeichnet –,
7. Förderung zum selbstständigen Lernen,
8. ein dem Lernziel angemessener Einsatz von Sozialformen und Methoden,
9. Konsolidierung des Inhalts und Übungsphasen sowie
10. das Herstellen von Passungen (vgl. Helmke, 2006).
Abb. 2: Stufenkonzept in Anlehnung an Helmke 2006
Mit anderen Worten: Ein guter Unterricht aktiviert und motiviert die Lernenden. Er lebt von einer Ausgewogenheit von Inhalten, Ritualen, Anleitung und Selbstständigkeit. Er sorgt für die nötige Klarheit und Sicherheit im Bildungsgeschehen und ist methodisch gestützt. Dabei wird hinreichend Zeit für das Erlernen der Methoden eingeplant. Reflexion und Rückmeldung sind selbstverständliche Bestandteile guten Unterrichts. Durchaus: ein „dickes Brett“. Die Herausforderung besteht jedoch in dieser grundsätzlichen Komplexität dessen, was – guter – Unterricht ist und wie er methodisch-didaktisch reflektiert – also vor- und nachbereitet – wird. Die Übertragung auf die virtuelle Lernwelt erscheint vor diesem komplexen Anspruch keine allzu große Hürde zu sein, bedarf allerdings, ebenfalls wie die Frage nach gutem Unterricht, der Anbindung an pädagogische Grundlagen.
Kapitel 1
Methodik oder Didaktik?
Denn oft beginnt es mit dieser grundsätzlichen Unschärfe: Man redet von Didaktik, meint aber eigentlich methodische Fragestellungen. Oder man lässt sich über Methoden aus, ohne ihren Einsatz didaktisch zu reflektieren. Freilich: Beide Fachbegriffe gehören zusammen, doch meinen sie nicht Dasselbe. Deshalb ist vor methodisch-didaktischen Überlegungen diese Klärung wichtig, ohne dabei „schulmeisterlich“ wirken zu wollen. Eine Referendarin äußerte sich nach einer Lehrprobe so:
„Das war so genial vorbereitet, die Schüler waren voll dabei und ich habe fast alle meine Ziele erreicht. Ich verstehe nicht, wieso sie immer wieder auf diesem einen Punkt (ob das auch für die Schüler bedeutsam war) rumgeritten sind. Vermutlich wollten sie es mal wieder nur runterdrücken.“
Eine Unterrichtsstunde ist ein einmaliges Geschehen, das so nie wiederholt werden kann – auch darin besteht der Reiz und die Lebendigkeit des Unterrichtens –, das aber deshalb auch nur bedingt vorzubereiten ist. Viel ist von der Atmosphäre und natürlich auch von dem eigenen Umgang mit der Besucher- und Bewertungssituation abhängig, ebenso wichtig ist aber die klare, von den methodisch-didaktischen Überlegungen gesteuerte Strukturierung. Und diese wird umso präziser, je klarer das Verständnis über Methodik und Didaktik ist. In der Regel zieht sich ansonsten diese Unschärfe – bei allem gründlichen Korrekturlesen als Mentor – durch das Unterrichtsgeschehen, teils in die Formulierung der Arbeitsaufträge, in den Umgang mit unvorhersehbaren „Störungen“ … sowie in die im Prozess sich ergebende Änderung der Zielebene hinein.
Die Kunst zu lehren
Im Gespräch mit einer virtuell Studierenden wurde deutlich, wie sehr die Aneignung des persönlichen Bildungsziels und die tagtägliche Verwirklichung im Unterrichtsgeschehen eine tragende Rolle spielen:
„Das Lernziel sei das und das und das (…) es ist für mich das persönliche Lernziel ein anderes, würde ich sagen. Das hat weniger nur mit Nachahmen zu tun, sondern einfach auch damit, was man über sich selber lernen möchte“ (Lanig, 2019, Anhangband 3, S. 29).
Interessant ist daran, auf welche Weise die Studierende eine Abgrenzung der Aneignung zum „Nachahmen“ zieht. Dass diese Subjektivierung in der virtuellen Lehre eine ganz neue Sicht auf die im Grunde alte Forderung der Individualisierung von Unterricht wirft, zeigt sich im Distanzlernen ganz besonders. Dieser Bogen in der Historie der Didaktik soll an dieser Stelle geöffnet werden:
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