19,3–4: In die Wüste Die Darstellung nimmt an Fahrt auf, wenn davon gesprochen wird, dass Elija die Drohung gegen seine Person gesehen (וירא MT), also realisiert hat (V. 3). Da nicht davon die Rede ist, dass ein Bote von Isebel zu ihm gekommen wäre, weiß er von der Drohung möglicherweise durch eine Vorahnung. Zwei Verben braucht es, um den ganzen Weg von Jesreel nach Beerscheba im südlichen Juda zu schildern. Damit begibt sich Elija vom angestammten Gebiet Israels in die Wüste. Sein Gang in die Wüste (Vv. 4–8) erinnert sowohl an seinen Aufbruch ins Wadi Kerit (17,2–4) als auch an Moses Flucht in die Wüste (Ex 2,11–15) sowie an das, was Israel dort widerfahren ist (Num 11). Es handelt sich um einen Grenzbereich fern des Alltags. Die dort verbrachte Zeit hinterlässt tiefe Spuren. Elijas physische Reise spiegelt sich in einer psychischen, wenn er seinen Diener zurücklässt und seinen Weg alleine geht. Seine Wüste ist die Sterilität der Abschottung, was durch den einsamen Ginsterstrauch betont wird, unter dem er einen Tag lang rastet (V. 4). Der Baum erinnert an Moses Begegnung mit Gott im brennenden Dornbusch (Ex 3). Elija bittet darum, sterben zu dürfen. Das Wort נפש wird hier zweimal verwendet und innerhalb von drei Versen zum vierten und fünften Mal; dadurch wird betont, dass ein zentrales Motiv der Erzählung und der Grund für Elijas Weggang das Leben Elijas ist. Ihn drückt das Gefühl, dass er letztlich nicht mehr ausrichten konnte als seine „Väter“, also die Propheten vor ihm. 37Er hat resigniert und möchte, dass Gott all dem ein Ende bereitet. 38Eine derart tiefe Mutlosigkeit erscheint – vor allem nach dem Erfolg am Karmel – unangemessen, und es stellt sich die Frage nach Elijas psychischer Verfassung.
19,5–7: Begegnungen mit einem Engel Erschöpft von seiner Reise und seiner Depression schläft Elija ein (V. 5), was als Symbol des von ihm erbetenen Todes gelten kann. Er wird von einem Engel geweckt, der ihn zum Essen auffordert, und er findet bei seinem Haupt Brot und Wasser. Die Szene lässt an 17,5–6 denken, wo er von Raben versorgt wurde. Das Wort צפחת für den Krug Wasser ruft auch die Versorgung durch die Witwe in 17,10–16 in Erinnerung. Nachdem er noch mehr geschlafen hat, weckt der Engel ihn erneut und fordert ihn zum Essen und Trinken auf und fügt hinzu, dass die bevorstehende Reise sonst für ihn zu weit sein wird (V. 7). Das Wort lang (רב) entspricht dem Wort, das in V. 4 mit genug übersetzt wurde. Die Enttäuschung, die Elija dort durchlebt, geht über seine Kräfte. Seine Reise würde ins Verderben führen, wenn nicht Gott seine Versorgung übernehmen würde. Die Reihe wundersamer Akte des Versorgtwerdens dirigiert ihn zur bevorstehenden Begegnung mit Jhwh.
19,8–9: Vierzig Tage und Nächte bis zum Horeb Mit neuen Kräften macht sich Elija wieder auf den Weg. Vierzig weitere Tage und Nächte ohne Essen braucht er noch für seine Reise, bis er am Horeb angelangt (V. 8b). Das ist ganz offensichtlich eine Anspielung auf Moses Fasten vor dem Empfang der Gesetzestafeln (Ex 24,18; 34,28; Dtn 9,9.11.18.25; 10,10) an eben diesem Horeb. Die Höhle, in der sich Elija aufhält (V. 9), kann gut mit der Öffnung oder Spalte im Fels (נקרת הצור) in Verbindung gebracht werden, in der Mose stand, als Gott vorüberzog (Ex 33,22). Die gesamte Szene erinnert an Exodus 32–33, wo Mose sich darüber beklagt, dass er die Last alleine zu tragen hat, das Volk zu führen – und sogar darum bittet, dass Jhwh ihn töten möge (Ex 32,32) –, worauf Jhwh in einer Theophanie reagiert. 39Die Szene lässt auch an die Höhlen denken, in denen Obadja die Mitpropheten Elijas versteckt gehalten hat (1 Kön 18,4.13). Nun befindet sich Elija in der gleichen Situation wie sie, und in beiden Fällen ist Isebel dafür verantwortlich.
19,10: Elija beklagt sich Elija hat nach einer Audienz bei Gott verlangt, und Jhwh fragt ihn nun, was er dort tue. Elija klagt darüber, dass das Volk vom Bund mit Jhwh abgefallen ist (MT), seine Altäre niedergerissen und seine Propheten getötet habe, doch das entspricht nicht den Tatsachen (19,10). In Kap. 18 waren es Ahab und die Omriden, die Jhwhs Gebote gebrochen haben (18,18); es war Isebel, die Jhwhs Propheten töten ließ (18,4.13) und Elija bedroht hat (19,2), und die Namen derer, die den Altar Jhwhs zerstört haben, werden nicht genannt (18,30). Darüber hinaus fielen die Menschen dort nieder und erkannten Jhwh als Gott an (18,39). Die Behauptungen am Anfang und am Ende der Klage Elijas über das Volk zeigen, dass er voller Selbstmitleid ist. In seiner Klage, dass er der einzige übriggebliebene Prophet sei, ignoriert er die hundert von Obadja geretteten Propheten (18,4.13). Seiner Aussage zufolge trachten auch die Israeliten (בני ישראל) und nicht nur Isebel ihm nach dem Leben (19,10). Sein Selbstmitleid lässt ihn zur Übertreibung greifen und könnte sogar seinen Realitätssinn trüben.
19,11–12: Theophanie Jhwhs Reaktion auf Elija besteht in der Theophanie in Vv. 11–12. Indem Jhwh Elija die gleiche Art der Offenbarung gewährt, wie sie Mose am Horeb zukam, legitimiert Jhwh das Wirken Elijas als Prophet und als Jhwhs Stellvertreter ungeachtet seines Klagens. Jhwh hat Wohlgefallen am Tun Elijas und betrachtet ihn keineswegs als Versager, sondern als Führungsfigur, die Mose ebenbürtig ist. Ebenso legitimiert die Theophanie Elija und die Prophetenberufung durch die Veränderungen, die sie gegenüber der Mose-Theophanie vornimmt. Jhwh erscheint in keiner der Erscheinungsformen, die sonst im Rahmen einer Theophanie gängig sind – Wind, Erdbeben oder Feuer –, sondern im zarten Flüstern. Jhwh gebietet über das Gewitter, wie er im Wettstreit am Karmel beweist, doch seine wahre Gegenwart zeigt sich – wie im schlichten Gebet Elijas in dieser Geschichte – im leisen Wort an den Propheten. Die Mose-Episode bildet dazu eher eine Parallele als einen Gegensatz. Mose hat die Theophanie erfahren. Doch die Bedeutung des Geschehens auf längere Sicht liegt in den Geboten, die Mose auf dem Berg empfangen hat, und weniger in den Machtbekundungen. Der Prophet kommuniziert in vertrauter Weise mit Gott, wie es Mose getan hat, der ebenfalls ein Prophet war. Der Prophetie wird der Rang der Tora verliehen, die auf dem sturmumtosten Horeb entgegengenommen wurde. Im Wort Moses und der Propheten lässt sich Jhwh finden. Passend dazu hüllt Elija sein Gesicht in seinen Umhang. Auch diese Eigenheit erinnert an Mose. In Ex 3,6 hat Mose sein Gesicht vor Jhwh im brennenden Dornbusch bedeckt, und in Ex 33,22 hat Jhwh Moses Gesicht bedeckt, während er an ihm, der in der Felsspalte stand, vorüberging (Ex 33,22). Elija bedeckt sein Gesicht vor dem Wort Jhwhs.
19,13–17: Ein neuer Auftrag Als Elija die Stimme hört und bemerkt, dass die Theophanie beendet ist, geht er hinaus und steht entsprechend dem Befehl Jhwhs (V. 11) am Eingang der Höhle (V. 13). Erneut wird ihm die Frage Was tust du hier, Elija? gestellt. Diesmal wird der Sprechende nicht als Jhwh identifiziert, sondern als „eine Stimme“ (קול), was darauf hindeutet, dass es sich um das zarte Flüstern (קול דממה דקה) des vorangegangenen Verses handelt. Da dies die gleiche Frage ist wie in V. 9, ist die Stimme als das Wort Jhwhs zu bestimmen. Hierdurch wird deutlich, dass das zarte Flüstern das geoffenbarte Wort Jhwhs ist. Elijas Antwort lautet wie zuvor (V. 14); für ihn hat die Theophanie nichts verändert. Seine Sturheit ist vielleicht die Kehrseite seiner charakterlichen Stärke. Immer noch sieht er sich vom Volk verfolgt und möchte Schluss machen. Jhwh nimmt seinen Rücktritt an, aber nicht mit sofortiger Wirkung. Jhwh erteilt ihm eine Reihe weiterer Aufträge, deren Höhepunkt die Ernennung seines Nachfolgers bildet (Vv. 15–17). Er soll auf dem gleichen Weg zurückkehren, in die Gegend von Damaskus gehen und Hasael zum König von Aram salben. Es ist anzunehmen, dass er von dort nach Israel zurückkehrt, weil er dann Jehu zum König Israels salben soll (V. 16a). Und schließlich soll er Elischa zu seinem Nachfolger salben (V. 16b). In den folgenden Geschichten salbt er keinen dieser Männer persönlich, und Elischa tut dies auch nicht. Elija wirft seinen Umhang über Elischa und bestimmt ihn so zu seinem Diener und Nachfolger; Elischa teilt Hasael mit, dass dieser der nächste König von Aram sein wird; der ermordet daraufhin seinen Gebieter und greift nach dem Thron (2 Kön 8,7–15); und auch Elischa schickt einen seiner Lehrlinge, um Jehu zu salben (2 Kön 9,1–10). Daraus könnte man schließen, dass das Salben in 19,15–16 in metaphorischer Weise für ein „Ernennen“ oder „Einsetzen“ steht und dass Elija seinen Auftrag durch Elischa erfüllt. In V. 17 wird angedeutet, dass der Grund für diese Reihe von Salbungen darin besteht, Gericht über Israel zu bringen. Hasael gilt als der, der Israel brutal besiegt und unterdrückt hat (2 Kön 8,12; 10,32–33; 13,3.7), was hier aber als Gericht Jhwhs angesehen wird. Jehus blutige Säuberung unter den Baals-Anhängern (2 Kön 9–10) macht deutlich, dass der Grund für das Gericht im Abfall Israels liegt. Dabei ist es Elischa, der Hasael wie auch Jehu einsetzt und letztlich das Schwert des Jhwh-Gerichts führt. Das Schwert des prophetischen Jhwh-Wortes ist schärfer als das von Königen wie Hasael und Jehu.
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