Einen weiteren Ausdruck charakterisiert Noth zutreffend als „uns nicht mehr sicher verständliche stereotype Redewendung“. Diese Wendung ist praktisch auf die Prophetenworte gegen die Herrscherhäuser des Nordreichs beschränkt. 51Sie wird auch noch in Dtn 32,36 verwendet (mit vorangestelltem אפס) sowie in 2 Kön 14,26, wo es ואפס עצור ואפס עזוב heißt. Das ist offenbar eine Näherbestimmung von משתין בקיר, doch beide Ausdrücke werden auch unabhängig voneinander verwendet. Die Näherbestimmung בישראל ist auch für die Entscheidung zwischen den unterschiedlichen Vorschlägen für עצור ועזוב von Bedeutung; sie gehört zu dem in den Prophetenworten gewählten Ausdruck, aber sie fehlt in Dtn 32,36 und 2 Kön 14,26, was darauf hindeuted, dass sie hier ursprünglich nicht gestanden hat. 52
Die Grundbedeutung der beiden wichtigsten Wurzeln scheint auf den ersten Blick klar zu sein; bei beiden scheint es sich um passive Partizipien zu handeln. עצר hat die Grundbedeutung „beschränken“, während עזב „verlassen, preisgeben“ bedeutet. So kommt es zur geläufigen Übersetzung „gebunden oder frei“. Trotzdem sind die genaue Nuancierung sowie der Sitz im Leben der Ausdrücke umstritten. Ihre beiden Kernelemente werden als Gegensätze, aber auch als Synonyme verstanden. 53Gegensätzliche DeutungenWerden die beiden Begriffe als Gegensätze verstanden, dann werden sie meist als Merismus aufgefasst und als Kategorien innerhalb verschiedener Lebensbereiche gedeutet: gesellschaftlich (Sklaven oder Unfreie versus Freie, 54oder aber Menschen, die unter dem Schutz eines Stammes oder Clans leben, versus ungeschützte Fremde 55), militärisch (die, die zu Hause und verhindert sind, versus die, die für den Krieg freigestellt sind, also Zivilisten versus Militär, 56oder das Gegenteil – Einberufene versus diejenigen, die von der Verpflichtung freigestellt sind, also Militär versus Zivilisten 57) oder kultisch (basierend auf Jer 36,5: die unter einem Tabu stehen versus kultisch Reine 58). Keine dieser Deutungen passt wirklich zu den Thronerben, auf die die Prophetenworte zielen: weder gehören Unfreie zu ihnen, noch wären sie von der Wehrpflicht betroffen; zudem gibt es feststehende Begriffe für kultische Reinheit bzw. Unreinheit, die man an dieser Stelle finden müsste, wenn es um dieses Thema ginge. 59Deshalb ist Kutschs Vorschlag, dass die beiden Begriffe das Mündigwerden eines Mannes bezeichnen, weil er nämlich nicht mehr durch elterliche Kontrolle „beschränkt“ wird, sondern „freigelassen“, also mündig ist, interessant; es ginge dann um Minderjährige und Erwachsene. 60Der einzige Nachteil dieser These besteht darin, dass sie überhaupt nicht mit dem gesellschaftlichen Status der Thronerben in Verbindung steht.
Synonyme Deutungen Ein komplett anderer Ansatz besteht darin, עצור und עזוב nicht als Gegensätze, sondern als Entsprechungen zu betrachten. Dies wird besonders von Saydon befürwortet, der dafür plädiert, dass die beiden Begriffe gemeinsam („obdachlos“ und „hilflos“) den schwächsten Teil der Gesellschaft bezeichnen und eine Möglichkeit bieten, die Universalität des Geschehens zu markieren, gegen die noch nicht einmal die Ärmsten gefeit sind. 61Cogan und Tadmor praktizieren einen ähnlichen Ansatz, wenn sie als „die Eingeschränkten und Verlassenen“ übersetzen, und ähnlich auch Hobbs mit „die Weggesperrten und im Stich Gelassenen“. 62Dennoch lässt sich nur schwer erkennen, wie eine Bezeichnung für mittellose, behinderte oder vergessene Menschen sich auf das Herrscherhaus beziehen könnte. Ebenso wenig leuchtet ein, dass das unterste Segment der Gesellschaft nicht die Schicht ist, die normalerweise einem Schicksal wie dem Gemetzel entgehen kann, das in diesen Prophetenworten geschildert wird. Talmon und Fields plädieren auch für die synonyme Bedeutung von עצור und עזוב, was sie als nominales Hendiadyoin deuten, das einen Herrscher-Befreier bezeichnet, und zwar vor allem aufgrund des Parallelausdrucks seine Verwandten und Freunde (גאליו ורעהו) in 1 Kön 16,11. 63Entsprechend sei dies – wie משתין בקיר – auch ein Fachausdruck für eine „bestimmte Bevölkerungsschicht … und bezeichnet die Mitglieder des israelitischen Königshauses“. 64
3.2.2.3 Der Fluch von Hunden und Vögeln
Der Kehrvers, dass jemand von Hunden und Vögeln gefressen wird, hat damit zu tun, nicht bestattet zu werden (vgl. 2 Kön 9,10a). Dass er vermutlich auf einen Vertragsfluch zurückgeht, legt sich aufgrund von Dtn 28,16.26 und altorientalischen Vasallenverträgen nahe. 65Auch DtrH bedient sich seiner in den anti-dynastischen Prophetenworten. Hiernach sollen die männlichen Nachkommen des Königshauses nicht nur ermordet werden, sondern ihre Leichen sollen verstreut werden, vermodern und von Haus- und Wildtieren gefressen werden. Dabei handelt es sich um eine zweifache Drohung. Erstens würde man ihrer nicht an einem identifizierbaren Grab gedenken, was zur Folge hat, dass jede Erinnerung an ihre Existenz verloren ginge – was umso schwerer wiegt, als ihre Nachkommen ausgelöscht würden. Paradoxerweise wäre der Bericht in den Königebüchern dann ihre einzige Erwähnung. Zweitens hatte die Vernichtung der Nachkommen Auswirkungen auf das Nachleben. Der König bzw. das Oberhaupt der Dynastie stand seinen Vorfahren gegenüber dafür ein, ihr Erbe weiterzutragen. Nicht begraben und nicht erinnert zu werden bedeutet, dass die Versorgung, die er oder sie sich durch Bestattungsriten oder im Ahnenkult erhofft hatte/n, unmöglich gemacht würde. Die Folge wäre ein Dahinsiechen in der Unterwelt. 66Der Fluch des Nicht-Begrabenwerdens wird vor allem im DtrH-Bericht vom Ende des Hauses Omris/Ahabs real, wo Jehoram auf dem Land erschlagen wird (2 Kön 9,17–24*) und die übrigen Erben Ahabs in der Stadt zu Tode kommen (2 Kön 10,1–9*).
Alexander Rofé Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum Verstehen der Prophetengeschichten in den Königebüchern war Rofés Bestimmung ihrer Gattung als Legende. 67Den Begriff („zu Lesendes“) hat er von Geschichten über frühchristliche Heilige entlehnt, die zu bestimmten Gelegenheiten gelesen werden sollten und wegen ihres wunderhaften Inhalts beliebt waren. 68Rofé unterscheidet die einfache Legende von der erweiterten Fassung.
Einfache Legende Dies ist eine kurze Geschichte, die zwischen zwei und sieben Versen lang ist und einen einfachen Plot hat, in dem es meist eine Krise gibt, die übernatürliches Eingreifen erfordert, was wiederum dazu führt, dass man einen Gottesmann zu Hilfe ruft. Dieser vollbringt ein Wunder, das die Krise beendet. In der Geschichte, die für sich steht und nicht mit dem literarischen Kontext verknüpft ist, gibt es ein einziges Wunder. Die Figuren sind einfache Leute, die anonym sind und deren Bedeutung in der Rolle liegt, die sie spielen. Die Geschichte besitzt keine wirkliche Moral und ließe sich aus heutiger Sicht auch als unmoralisch bezeichnen. In ihr kommen Ehrfurcht und Respekt der Figuren gegenüber dem heiligen Mann zum Ausdruck, und vielleicht sollen diese Gefühle auch denen vermittelt werden, die die Geschichte hören oder lesen. Das Wunder vollbringt der heilige Mann alleine unter Verwendung sympathetischer Magie und ohne sich ausdrücklich an Gott zu wenden. 69
Erweiterte Legende Erweiterte Legenden sind, wie der Name sagt, Geschichten, die literarisch ausgearbeitet wurden. Sie sind länger und können mehr als nur ein Wunder enthalten. Ihre Figuren sind stärker entwickelt und können auch Namen tragen. In diesen Geschichten besteht eine stärkere Tendenz dazu, eine Weltanschauung zu vermitteln, und es können theologische, ethische oder politische Fragen thematisiert werden. Wichtige Beispiele wären die Erzählung von der Frau von Schunem (2 Kön 4,8–37), die Geschichte von Naaman (Kap. 5) sowie Elischas Sieg über das aramäische Überfallkommando (6,8–23).
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