Aber die Menschen sahen fremden Auges des Alten Beginnen, und die davon erfuhren, sagten: das sei eitel Mühen.
Der Kampf mit der See ist verloren; denn die See ist übermächtig in ihrer Kraft. Die See ist stark wie Gott: sie fegt Länder und Menschen von hinnen und lässt Länder erstehen, wie sie will, und keiner wehrt ihr. Und die See greift mit gewaltigen Armen über die Inseln und führt von dannen, was sie mag. Und keiner wehrt ihr. Und sie formt sich die Menschen in ihrem Bereich, löscht die laute Freude auf ihren Lippen und legt auf ihre Stirnen den schweigsamen Ernst. Sie allein hat das Wort; sie zeichnet ihren Menschen die Bahn, und keiner wirkt ein Werk, ohne sich zuvor mit ihr zu bereden — mit ihr und mit Gott, dem auch die See dumpfgrollend gehorchen muss.
Die Lerchen hingen an den Sonnenstrahlen klingend im Frühlingslicht.
Eike Klähn hatte das Totenhemd immer noch nicht angezogen; aber als sie vom Rathause der Stadt drüben am Festlande eines Tages um Altertümer und Sehenswürdigkeiten als Zeichen lebendigen oder sterbenden Volkstums auf den Frieseninseln baten, da weigerte Eike Klähn, die Seherin, die vorübergehende Herausgabe des kunstvoll gearbeiteten Linnens mit der seltsamen Stickerei, das ihr Grabkleid war und an dem sie ein Lebensalter gewirkt hatte:
„Das geht nicht; denn ich werde sterben, weil ich in jener Nacht, in der Binne Bonken Stavenwüffke suchen ging, gesehen habe, wie sie mir das Totenhemd als letztes Kleid antaten.“
Und wenn in diesen Tagen Eike Klähn ein Rauschen hörte, oder wenn sie hörte, wie der Wind um die Fenster schliff, so hob sie fragend die Augen — ob es der Tod sei, der sie an der Hand nehmen wolle.
Und Eike Klähn gab das teure Linnen nicht; denn es war ihr Stolz und war ihr Reichtum.
Aber Eike Klähn starb auch nicht. Geschlechter hatten sich zur ewigen Rast gelegt; hundertmal war das Schiff des Todes mit den schwarzen Segeln, von dessen Achterdeck das flatternde Linnen des stummen Steuermanns weht, im Winde an die Kante der Hallig getrieben, aber Eike Klähn hatte der Tod die harte Hand nicht aufs Herz gelegt. Elf von den siebzehn Frauen des Eilands waren in einer Nacht Witwen geworden — Eike Klähn hatte der Tod vergessen.
Und nun sass die alte Frau wieder draussen im Frühlingstage, das Gesicht gegen den Mittag gewendet, und nun litt sie wieder, wie die Sonne mit ihrer segnenden Hand ihre welke Stirn streichelte, und ward froh, wenn sie ihr die warmen Lippen auf den verwelkten Mund legte; denn es war sonst niemand, der diesen Mund küsste.
Unter den trillernden Lerchen zitterte die Luft. Die See schickte ihre Wellen schmeichelnd herüber in den Duft der jungen Blumen. Und ganz draussen am Ende der Hallig stand der Frühling mit goldenen Flügeln und streckte seinen Arm über das lachende Eiland. Da fielen aus seinen Händen Blumen ins Gras. Auf den Weidefennen gingen die roten Kühe, schritten die Schafe mit den hüpfenden Lämmern. Und die Herzen der Menschen läuteten in jauchzender Freude hinein in das heilige Licht.
In einem Sick, dicht an der Halligkante, das die letzte Flut sich gewühlt und mit salzigem Wasser gefüllt hatte, spielten um diese Zeit Jens Klähn und Ipke Tamen, der jüngere Pflegesohn Frerksens. Sie liessen papierene Schiffe schwimmen und hatten den Erhöhungen im Sick die Namen der nordfriesischen Inseln gegeben. Jens Klähn warf in sein Schiff weisse Muschelschalen als Fracht: „Ich fahr’ nach Sylt. Die Lappen auf! Die Anker hoch!“
Aber Ipke Tamen senkte die Fäuste in die Hosentaschen und liess sein leichtes Fahrzeug im Hafen. Er schmollte: „Nach Sylt? Nein, das ist mir zu weit. Du weisst wohl nicht mehr vom ersten März — wie Jürgen Bonken totblieb und meinem Vater draussen das Herz erfror? Die wollten auch nach Sylt mit dem ‚Amilhujo‘ . . .“
Jens Klähn guckte verächtlich auf den zaudernden Jungen: „Die trieb der Sturm nachts von den Ketten. Das ist doch etwas ganz anderes!“
Aber Ipke Tamen blieb dabei: „Nein, nach Sylt ist mir zu weit. Denk an Jürgen Bonken und an meinen Vater, sag’ ich!“
Wie die Knaben so redeten, richtete sich ein Stück weiterhin Binne Bonken empor und sah nach ihnen herüber; sie hatte mit Hertje Nomsen am Rande des Watts aus weicher Kleierde in sauberen Muschelformen Knerken gebacken. Ihres Vaters Name war ihr ans Ohr geklungen. Nun liess sie die blaue Muschel fallen, legte die leichtgeschlossene Rechte an den Mund und sah unter der Stirn hervor. Sie war traurig und dachte jenes Abends, in den sie hineingelaufen war, um Stavenwüffke nach Jürgen Bonken zu fragen.
„Du darfst nicht so laut sein, Ipke Tamen,“ mahnte Jens Klähn, „Du weisst doch, Binne Bonken sucht dann nachts wieder ihren Vater am Strande und läuft den Irrlichtern nach!“
In Binne Bonkens Augen glänzten die Tränen. Aber sie wagten sich nicht heraus in das Sonnenlicht, nicht heraus in die lachende Lust des Frühlingstages; sie fanden keinen Weg die Wangen herab, auf denen lauter Maienglück wohnte.
Wie die Jungen Binne Bonkens Traumaugen sahen, schwiegen sie.
„Siehst Du,“ sagte Jens Klähn, „Binne will weinen, Du verdirbst ihr die Freude.“
Aber Ipke Tamen hörte diese Worte nicht mehr; den Kopf hintenübergebeugt, stand er schon mit erhobenen Händen im Grase, und die Augen der anderen Kinder folgten seinem deutenden Finger; droben schwamm ein Storch mit breiten Schwingen in mächtigen Kreisen über der Hallig.
Der Mund blieb den Kindern offenstehen, und Ipke Tamen wunderte sich: „Gebt acht, das gibt etwas! Wie er die Beine ausstreckt und wie er, ohne mit den Flügeln zu schlagen, doch in den Lüften bleibt!“
„Er kommt immer tiefer! Er will sich auf ein Dach setzen!“
Da fiel es Hertje Nomsen ein: „Ich sag’ Euch, wenn ein Storch kommt, so bringt er einem ein Brüderchen oder ein Schwesterchen.“
„Ist ja all Unsinn!“ brummte Ipke Tamen.
„So — Olk Eike Klähn wird’s wohl wissen,“ meisterte ihn Jens Klähn.
Aber Ipke Tamen liess sich nicht irre machen: „Uwe Nomsen wohl auch, he? Uwe Nomsen seine Geschichte von den kleinen Kindern gefällt mir übrigens famos . . .“
„Hurra, da sitzt er! Hurra, ein Storch auf Ocke Frerksens Haus!“
Und jetzt fiel es auch Binne Bonken ein: „Wo ein Storch auf dem Hause sitzt, gibt’s eine Braut.“
„Hurra, der Kapitän nimmt eine Braut! Was macht er dann aber mit Krassen Frerksen, seiner Frau?“
Jens Klähn sah den vorlauten Jungen, der seit dem ersten März doch bei Ocke Frerksen daheim war, unfreundlich von der Seite an: „Ipke Tamen, Du hast uns zum besten! So hat das Binne Bonken gar nicht gemeint! — Mutter sagte übrigens, die kleinen Kinder kämen aus der Hummerkiste.“
Aber Ipke Tamen wusste das besser: „Junge, Junge, die Hummerkisten sind nichts weiter als ein schlechtes Strandgut; die haben die Schiffer auf See über Bord geworfen, wenn sie ihnen leer geworden sind. Du hast genug an der Kante antreiben sehen — aber ein Kind hast Du noch in keiner gefunden.“
Hertje Nomsen zweifelte: „Aber die Frau von Ekke Nekkepenns könnte doch ein Kindlein hineinsetzen, wenn eine Hummerkiste lange als Strandgut liegt? So denken sich das die Leute auch.“
„Das ginge schon eher an,“ sagte Ipke, der Skeptiker, „aber ich weiss die Sache ganz anders von Uwe Nomsen, und Uwe Nomsen kann das fein erzählen. Wir haben neulich den ganzen Nachmittag davon gesprochen.“
Ipke Tamen verstand es, die drei neugierig zu machen.
„Soll ich Euch erzählen?“ fragte er.
„Na, was sagt denn Uwe Nomsen? So red doch, Du!“ stiess ihn Jens Klähn an.
Und schon setzten sich alle voll grossäugiger Erwartung ins Gras.
„Also los! Damit Ihr endlich mal klug werdet, wie sich’s für grosse Kinder schickt!“
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