Das trübe Schweigen wollte sich wieder über die drei legen, aber Knudt Klähn verscheuchte es: „Hm. Auch Karsten Hansen war totgeblieben. Seine Kleider starrten vor Eis. Es war gegen Mittag, als wir die Boote zu Eurer Rettung an das Wrack heranbrachten, das wir wegen des Nebels ja nicht früher sehen konnten. Und dann haben wir drei Tote herübergefahren, drei Tote . . .“
Dem Schiffer Klähn stockte das Wort im Munde —
„. . . von denen Ocke Frerksen wieder lebendig ward!“ ergänzte der Kapitän dumpf und saugte hastig an der erkalteten Pfeife.
Sie redeten noch eine Weile, und der Wind ward lauter und lief geschäftiger um die Häuser der Werft.
Frerksen klopfte die Asche aus dem Kalkstummel: „Drei Tote — Karsten Hansen und Momme Tamen haben sie begraben — und Ocke Frerksen ist auch nicht wieder richtig lebendig geworden . . .“
Frau Goede Klähn goss den braunen Tee in die flachen Schalen; aber das Herz des Kapitäns fand sich in dieser Nacht nicht heim in die Traulichkeit dieses Hauses. Die Schrecken des Sturmes, der den „Amilhujo“ in wildem Spiel über die nachtschwarzen Wogen getrieben hatte, bis er ihn zerschellte, krochen heute wie Gespenster um Ocke Frerksen. Und wie ein Gespenst scheuchte die bange Ahnung alle Freude von dem alten Manne, die bange Ahnung, dass er nie wieder in einen Sturm auf der See sein Kommando rufen werde.
Gegen Mitternacht sprang der Wind um und lief nun von Nordwesten über das Eiland.
Da drückte sich der Kapitän den brüchigen Südwester fest auf die Ohren und ging heim. Wie er sich an dem feuchten Zaun entlanggriff, weil die Wolkengespenster das Licht der nächtlichen Himmelslampe mit nassen Fingern ausgetan hatten, hielt er die Hand prüfend in den Wind und wandte sich um.
„Nordwest! Siehst Du, Knudt Klähn, ich hab’ das Nordlicht gesehen!“ ries er dem Schiffer hinüber, der gerade die Haustür schloss.
Und Frerksen kam nach Hause und sass noch lange im Lehnstuhl, sann im Lehnstuhl und dachte der Zeit, in der er den Tod erlebte und wieder erwachte.
Vier Wochen waren seitdem vergangen; vier Wochen war Jürgen Bonken tot, und ebensolange war Ipke Tamen, der neunjährige verwaiste Junge, im Hause Ocke Frerksens und nannte den alternden Mann „Vater“.
Und wie er so sann und wie ihm die kurze Kalkpfeife immer wieder zwischen den Zähnen kalt wurde, trat er plötzlich an das Fenster und horchte hinaus. Er wusste: der Wind steht steif aus Nordwest, und der Wind singt um die Dächer und Giebel. Aber Frerksen hörte ihn nicht. Und er starrte vor sich in die Nacht und nahm eine Lampe von dem Wandbrette. Die zündete er an und nagelte sie auf die Fensterbank, dass sie ihren goldenen Schein in das Dunkel werfe, weit hinaus auf die See — ein Wegweiser für die, die draussen sind. Und die Lampe hat seit jener Stunde in jeder Nacht auf dem Fenster in des Kapitäns Hause gebrannt.
Wie der graue Morgen nach einer verstürmten Nacht im Nebelmantel gekommen war, befand sich Knudt Klähn mit seinem jüngeren Sohne Jens bereits unten am breiten Priel, an dem Jochen gestern abend das Boot verankert hatte. Der Nebel schlug sich nieder, und das Segel des Bootes wurde gehisst. Ein günstiger Wind trieb das Schifflein vor sich her, jener Stelle entgegen, an welcher im Frühlichte die verschwommenen Umrisse der kleinen Hallig Habel mit der einzigen Werft sichtbar wurden.
Währenddem sass Jochen Klähn mit Urgrossmutter Eike in der Stube, nähte ein Segel aus rotbraunem Linnen und erzählte der greisen Frau, die zeitweilig das Spinnrad in Bewegung setzte, von der Sorge des Kapitäns.
„Olk,“ sagte Jochen, „Ocke Frerksen ist bis Mittemacht geblieben.“
Wie die Alte von Ocke Frerksens Leid erfuhr, zerbrach ihr der Faden zwischen den zitternden Fingern; sie legte die Hände in den Schoss und sann mit geschlossenen Augen zurück in eine ferne Zeit. Unter der schwarzen Friesenhaube hervor fielen die dünnen schneeweissen Strähnen ihres Haares, liefen um die faltenreiche Stirn und ringelten sich vor den Ohren zu silbernen Schnecken, deren jede von einer schwarzen Nadel durchstochen war.
Wie schlummernd sass die Greisin lange gegen die Rückenstütze des Holzstuhles gelehnt. Um ihre Lippen kam jenes Zucken, das die tiefen Falten ihres Gesichts in seltsamem Spiele bewegte.
„Was sinnt Olk Eike?“ fragte Jochen Klähn, dessen Nähfaden durch das braune Segeltuch glitt.
Da faltete die greise Frau die Hände. „Ich denke daran, dass Dein Grossvater und der Kapitän zusammen Kinder waren und dass beide die blaue Ader über der Stirn hatten. Die Leute sagen, sie sind gezeichnet gewesen. Deinen Grossvater, den ältesten meiner Söhne, hat die See verschlungen, und von den Halligleuten ist keiner unglücklicher gefahren als Ocke Frerksen . . .“
Dann verfiel die Alte in stummes Sinnen, und als sie wieder zu ihrem Urenkel herüberblickte, der auf der Schiffskiste sass, da war’s, als besinne sie sich auf etwas. Jochen Klähn wunderte sich darüber nicht. Die Alte sprach oft zusammenhanglos, zerrissen, und jetzt sagte sie: „Hast Du Nägel aus dem Schränklein bei dem Wandbrette geholt?“
Jochen Klähn merkte, dass die Neunzigjährige sich wohl noch nicht recht aus der anderen Zeit zurückgefunden hatte, in der sie soeben mit ihren Gedanken gewesen war.
„Nägel?“ fragte Jung Jochen. „Wann hat denn Grossmutter das wahrgenommen?“
„In dieser Nacht.“
„Nein, Olk.“
„So war’s Dein Vater?“
„Nein.“
„Ich hab’s aber gehört.“
„So hat Urgrossmutter geträumt.“
Aber Olk Eike sträubte sich: „Nein, Kind, nein; denn ich sass wach im Bette, sass lange wach; der Husten kam so oft und weckte mich immer von neuem. Es war längst Mitternacht vorüber. Ich hörte den Wind und wusste: er läuft nun aus Nordwest. Ich meine, wenn ich deutlich vernommen habe, dass der Wind sich wendet — denn er hat eine andere Stimme, wenn er über die See her läuft — so wird das mit den Nägeln wohl auch richtig sein.“
Jochen Klähn suchte die Alte auf andere Wege zu führen. „Ocke Frerksen hat das Nordlicht gesehen,“ berichtete er geschäftig, „und Frerksen sagt: wenn das Nordlicht steht, wechselt das Wetter. Der Kapitän hat recht gehabt.“
Jochen hoffte, Grossmutter Eike werde nun vergessen haben, was sie in der Nacht gehört haben wollte. Aber die Alte begann von neuem: „Und wie ich so wach sass und den Schein aus Frerksens Fenster gehen sah, der bis hinunter über die Fenne lief, da sah ich auch, dass sie mir das Sterbehemd anzogen.“
Die Alte sprach leise, sprach aber mit der Ruhe und Sicherheit, mit welcher sie immer berichtete, wenn sie das „zweite Gesicht“ gehabt hatte.
„Olk hat geträumt,“ warf Jochen Klähn ein, legte das Segellinnen beiseite und trat ans Fenster.
„Nein, ich habe das gesehen. Dort hab’ ich gesessen, dort stand ein Stuhl, dort das Waschwasser, dort lag die Seife . . .“
Die Alte deutete und erzählte umständlich, sie erzählte immerfort, und in ihre Augen kam der Glanz, der sommertags in ihnen war, wenn sie einen Sonnennachmittag von dem Stuhl an der Rückwand des Hauses über die blendende See geschaut hatte. Dann lag die Bibel auf ihrem Schosse, und sie blätterte in dem alten Buche; aber sie las nicht darin. Sie konnte das Evangelium auswendig. Und ihre Augen taugten längst nicht mehr, Gedrucktes zu sehen. So dämmerte sie auch jetzt vor sich hin, als sie ihre Augen nach dem Berichte über die Erscheinung der letzten Nacht geschlossen hatte.
„Wo ist Dein Vater?“ fragte sie Jochen Klähn nach einer Weile.
„Er ist nach Hallig Habel gesegelt und hat Jens mitgenommen. Sie wollen schauen, wie’s drüben steht; denn die Leute haben gestern erzählt, Tante Sikke sei fort.“
Da liess die greise Frau den Faden ihren Händen abermals entgleiten: „Sikke ist fort — von meinem Sohne Ketel?“
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